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Die Watte-Wette
Eine Kurzgeschichte von Gerald Grote
Das Verfliegen von schlechter Luft ist lange nicht so folgenschwer wie das Verfliegen eines Piloten. Das ist peinlich, blamabel und höchst unerfreulich. Vor allen Dingen dann, wenn er selbst für den Kurs verantwortlich ist und nun immer irrer und wirrer wird vor lauter Orientierungslosigkeit. Es ist grad so, als hätte sich ein Jockey vergaloppiert, ein Boxer verhauen und als wäre ein Wanderer auf dem Holzweg vom Matrosen auf dem falschen Dampfer ganz zu schweigen.
Zugute halten kann man mir eigentlich nur, daß es sich hierbei um meinen ersten Alleinflug handelt. Aber das ist auch schon alles. Denn ich hätte es besser wissen und noch besser aufpassen müssen.
Meine lieben Mitleserinnen und Mitleser, bevor ich mit meinen unmittelbaren Schilderungen fortfahre, beziehungsweise fortfliege, möchte ich den Moment meiner augenblicklichen Ziellosigkeit nutzen und mich lhnen kurz vorstellen. Mein Name ist Baba Baraba, ich bin siebenundzwanzig Millimeter groß, also eher klein und ein Flug-Insekt. Genauer gesagt eine Ephemeroptera, lhnen sicherlich besser bekannt als Eintagsfliege.
Nun werden sie wohl mein Entsetzen und meine Panik verstehen. Wem nur eine kurze Frist bleibt, der darf sich derartige navigatorische Schnitzer nicht erlauben. Denn die Zeit vergeht wie im Fluge. Egal wohin. lch habe in mir ein Gefühl, als wäre ein wichtiger Charakterzug entgleist.
Wir Eintagsfliegen sind auf das kurze Leben sehr gut vorbereitet. Aufgrund unserer knapp bemessenen Verweildauer haben wir lediglich verkümmerte Mundwerkzeuge. Weder Nahrungsaufnahme noch zeitraubendes Reden belasten die Daseinsplanung. Uns ist somit die vollständige Konzentration auf das Hier und Jetzt möglich.
lm Larven-Stadium entwickeln sich Körper und Gehirn. Ja, Sie haben richtig gelesen. lm Vergleich zum Homo Sapiens ist es nur ein Gehirnchen, aber immerhin. Das Grübeln, Sinnieren, ja sogar das gelegentliche Philosophieren ist uns möglich. All das, dank einer schnellen Auffassungsgabe und einer kollekiven Wissensvermittlung per Gedankenübertragung. Dieses einzigartige Prinzip haben sich übrigens die Ingenieure und Programmierer der sogenannten künstlichen lntelligenz zum Vorbild genommen. Und es ermöglicht, daß ich mich lhnen, wie sie sehen, mitteilen kann.
Es ist doch so: ln jenen Momenten, in denen sich die Menschen angesichts vieler offener Lebensfragen das Hirn zermartern, zu keiner Antwort gelangen und sich als einzige Läsung eine eingeweichte, sprudelnde Kopfschmerztablette anbietet, denken wir einfach nach oder manchmal sogar vor. Und kommen sogar zu Ergebnissen. Das unterscheidet uns. Wenn ein Zweibeiner durch Nachdenken tatsächlich mal zu bahnbrechenden Resultaten kommt, sperrt man ihn mitunter in graue Zellen.
So, nun will ich mich aber konzentrieren, um wieder die rechte Richtung zu finden und die Kurve zu kriegen. Die korrekte Flugroute steht bei mir hoch im Kurs. Darum verwirrt mich der momentane Zustand, macht mich konfus. Sollte sich dieser Wirrwarrkuddelmuddel noch steigern, bekomme ich womöglich eine Fliegenklatsche! Ach ja, jetzt erinnere ich mich. lch war an diesem Winternachmittag in den Bergen unterwegs, überquerte plätschernde Bäche und abgrundtiefe Felsspalten. Eine feine Schneeschicht bot einen erfreulichen Anblick. Mein Unterbewußtsein lenkte mich mit sanften Hinweisen.
Doch plötzlich hörte ich lautes Lamentieren, Geseufze und Klageworte, beinahe so, als wäre diese malerische Schlucht ein Jammertal. Dadurch wurde alles andere übertönt, vor allen Dingen meine richtungsweisende innere Stimme, und ohne einen weiteren Pieps ging die Orientierung flöten.
Die akustische Wahrnehmung ist bei Eintagsfliegen besonders ausgeprägt. Wir können sogar das Gras wachsen und die Flöhe husten hören. Darum fallen uns selbst leise Klagelaute auf. Und machen neugierig. Also fliege ich in der beginnenden Dämmerung zu der großen Berghütte, aus der jene wimmernden Töne zu vernehmen sind. Aber auch ein freundlicher Lichtschein zum Besuch einlädt. Mit angelegten Flügeln zwänge ich mich durch das rostige Schlüsselloch der Eingangstür und befinde mich sogleich in einem gemütlich-rustikalen Wohnraum.
Dort geht ein bauchiger Mann mit gerunzelter Stirn auf und ab. Er ist unzufrieden, durch und durch. Ein ums andere Mal ballt er mürrisch die Faust und stößt ein vergrämtes Neinneinnein aus. Nervös reißt er mit der anderen Hand an seinem Hemd herum, was das Zeug hält. Der gewichtige Mann ist leicht schwermütig und macht ein so langes Gesicht, daß er mit der Kinnspitze beinahe den Boden berühren kann.
Dasgehtdochnicht, brummelt er in seinen Bart, wobei er mit großen Schritten den Raum durchwandert. Wassollendennallebloßvonmirdenken murmelt er, als er am lodernden Kamin ankommt und ihm die Hitze in das ratlose Gesicht scheint. Er macht kehrt und stolziert mit einem verärgerten Sowasmachichnichtmit in die entgegengesetzte/ wesentlich kältere Richtung. Und zwischendurch garniert er seine pausenlosen Sätze immer mal wieder mit einem Neinneinnein.
Abrupt hält er inne und kratzt sich am Kopf. Er atmet tief durch und merkt wie seine alte Ruhe und Gemütlichkeit allmählich wieder zurückkommt. Mit einem lang anhaltenden Kopfschütteln setzt er sich in seinen abgewetzten Lieblingssessel und läßt den gedankenschweren Kopf in das bereitliegende Kissen sinken. Seine Arme hat er links und rechs auf die Lehne gelegt. Die wulstigen Hände machen unwillkürlich Gesten der Ratlosigkeit.
Wie gerne würde ich dem großen Mann einen kleinen Gefallen tun, aber was kann ich, Baba Baraba, ein Siebenundzwanzigmillimeterwesen denn schon tun? Am besten wird es sein, weiter aufmerksam zuzuhören und zu beobachten. Vielleicht habe ich dann ja einen Gedanken von Bedeutung, dessen Tragweite einem originellen Einfall gleichkommt.
Der Mann erhebt sich nun pustend aus den Polstern und geht schweren Schrittes zu einem Regal, aus dem er einen dicken Aktenordner zieht. Damit geht er zu einem runden Holztisch, auf dem er den lnhalt bedächtig ausbreitet. Es handelt sich um eine Sammlung von Zeitungsberichten und Briefen. Mit einem kurzen Blick würdigt er die Anhäufung journalistischer Werke und läßt sich dann mit einem ächzenden Stöhnen auf einem der beiden Holzstühle nieder.
"Wie war das eigentlich damals?" spricht er laut zu sich selbst. "Ach ja, ich wollte eine Diät machen. Um der Menschheit ein schlankeres Vorbild zu werden, sportlich und krankenkassenkompatibel. Aber als die Medien meinen Umfangreduzierungswunsch publik machten, gab es Proteste, Bürgerbewegungen und Unterschriftensammlungen. Durch alle sozialen Schichten zog sich die einhellige Auffassung, ich möge bitte so bleiben wie ich bin. lch sei ja sowieso ein Über-Mensch: übernatürlich, überlegen, überraschend und eben ein bißchen ... übergewichtig. Außerdem müßten ja sonst die vielen tausend Gußformen für Schokoladenweihnachßmänner, die Schnittmuster für Weihnachtsmannkostüme und die lustigen Weihnachtsmann-Zeichnungen auf den Festtagskarten vollkommen umgearbeitet werden."
Angesichts der gerade gehörten Schilderungen gehen mir nun einige Gedanken durch den Fliegenkopf. Veränderungen machen den Menschen offenbar Angst. Selbst bei einer Person, wie dem Weihnachtsmann, an die man beinahe das ganze Jahr überhaupt nicht denkt. Wenn man überhaupt an ihn glaubt.
Um mir die Zeitungs-Ausschnitte aus der Nähe anzuschauen, fliege ich auf den Tisch zu. Offenbar bleibt mein dezentes Fliegenflügelgebrumm nicht ungehört, denn der füllige Mann fuchtelt unverhofft mit den Armen in der Luft herum. Er hat mich entdeckt und nun fürchte ich um mein ohnehin kurzes Leben.
"Keine Angst, mein lieber Brummer, ich will Dir nichts tun. Mich stört nicht die Fliege an der Wand. Setze Dich nur zu mir, dann habe ich endlich jemanden, dem ich die Geschichte von dieser blöden Watte-Wette ezählen kann." Bei diesen Worten schaut er mich freundlich an. lch bemühe mich um einen ebenso liebenswürdigen Gesichtsausdnrck, aber gerate hierbei schnell an meine körperlichen Grenzen.
"Gestern besuchte ich Kim Kamm, einen Barbier mit Bierbar. Er schnitt mir die Haare und beim anschließenden Umtrunk sprachen wir über dieses und jenes, Es ging um den Mindestlohn für Heinzelmännchen und um die Frage, ob sich Rentiere rentieren. Außerdem diskutierten wir, warum die Menschen in der Weihnachtszeit in einen regelrechten Wunschstarrkrampf verfielen. Na ja und nach einigen Bieren behauptete mein Friseur, daß ein Kilo nicht immer ein Kilo sei. lch hingegen hielt das für ein Hirngespinst und wir wetteten. Der Coiffeur grinste und fragte, ob ich denn lieber ein Kilo Eisen oder ein Kilo Watte auf den Kopf bekäme. Da mir die Vorstellung, von tausend Gramm Metall auf dem Schädel getroffen zu werden, tatsächlich unangenehmer erschien, war ich drauf und dran, dem listig lächelnden Figaro zuzustimmen. lch bat mir Bedenkzeit bis morgen, dem vierten Advent, aus, denn der Einsatz ist hoch: Es geht immerhin um den Rauschebart des Weihnachtsmanns, den mir der Haarkünstler nur allzugerne abrasieren würde."
ln diesem Moment erhebe ich mich von der Weihnachtsmannschulter um nachzudenken. Als ich dabei gerade den Raum durchquere, kommt mir das in der Luft liegende geflügelte Wort eines Elefanten in den Sinn, von dem gesagt wird, daß er mal eine Mücke gewesen sei. Jener dickhäutige Denker äußerte sich in seiner bekannt verkünstelten Art: "Fliegende Fische gibt es häufiger als fischende Fliegen."
Des Herumflatterns müde und um besser überlegen zu können, was wohl mit jener eigenartigen Sentenz gemeint sei, setze ich mich auf den Tisch mit den vielen Zeitungs-Ausschnitten. lch begebe mich dadurch unbewußt in den Lichtkegel der Deckenlampe und werfe einen Schatten, was mich für diesen Moment zur Schmeißfliege macht. Doch es ist jetzt wohl keine Zeit für Wortspiele.
Mein Schatten ermöglicht augenblicklich das Hervorheben einer ansonsten unbedeutenden Zeitungs-Meldung. "Neuartiges Verfahren: Eisenspäne so leicht wie Watte!" Der Weihnachtsmann liest laut mit, haut dann vor Freude auf den Tisch und macht dadurch aus der Überschrift eine Schlagzeile.
Es ist eben diese Situation, die mir bewußt macht, daß mein Leben sinnvoll ist. Und zwar jede einzelne meiner sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden. lch gab mich nicht dem Zeitvertreib oder anderen beliebten Verscheuchungsformen hin, bin auch nicht auf die schiefe Bahn geraten und habe anderen die Zeit gestohlen oder sie sogar totgeschlagen. Nein, mir ist es vergönnt, im rechten Augenblick einen günstigen Moment vom Jetzbaum zu pflücken, weil die Zeit dafür reif ist.
Und sollten Sie, liebe Mitleserinnen und Mitleser, den Weihnachtsmann irgendwann sehen und seinen schönen Rauschebart bewundern, dann denken Sie ia vielleicht an mich, an Baba Baraba.
Kiel, 01.01.2024 diesen Eintrag kommentieren
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Was tat Jana-Tatjana Wastatjana?
Eine Kurzgeschichte von Gerald Grote
Sie stand im Mittelpunkt. Oder präziser: Im Mittelkreis. Um endlich einmal die Szene zu beherrschen und Heldin des Tages zu sein, hatte sie sich in dieser Dezember-Nacht ins Fußballstadion geschlichen und auf dem Spielfeld die Morgendämmerung erlebt. Ein bißchen fröstelte sie, aber es erwärmte sie der Gedanke, schon bald von tausenden Zuschauern gesehen und von den Fernsehkameras auf die Bildschirme der Republik gebracht zu werden.
Als der Nachmittag gekommen war, aber kein einziger Stadionbesucher, geschweige denn die Mannschaften, fing Jana-Tatjana Wastatjana an, das unerwartete Ereignis nun Punkt für Punkt zu durchdenken. Daraufhin zuckte sie zusammen, denn ganz plötzlich stieg in ihr eine doppelte Ahnung auf. Zum einen vermutete sie, daß die Kicker vom 1. FC womöglich an diesem Samstag gar nicht spielen würden. Außerdem befürchtete sie, mit der übrigen Geschichte überhaupt nichts mehr zu tun zu haben.
Ihre beiden Mutmaßungen sollten sich bestätigen. Denn die nachfolgenden Zeilen handeln von Gregor Groll, einem greinenden Griesgram, der als einziger Bewohner der Senioren-Residenz "Abendruhe" nicht durch den ortsansässigen Verein NIEMHEIAS ("Niemand muß Heiligabend allein sein") an eine Familie vermittelt werden konnte. Kein Wunder, wer möchte schon einen mürrischen Muffel in der guten Stube haben.
Dieser Umstand ist schuld daran, daß der emsige, kleine Altenpfleger Heinz Elmann ausgerechnet heute seinen Dienst versehen muß. Eine undankbare Aufgabe, denn er war schon häufig mit dem verdrossenen Alten aneinander geraten. Und es waren immer nichtige Anlässe, die zu wutschnaubenden Reaktionen führten.
Mal gab es das Frühstück zu zeitig, mal das Mittagessen zu spät, mal war der Nachmittagskuchen zu süß, mal der Abendbrottee zu kalt. Einem Menschen, der es darauf anlegt, jeden Morgen mit dem linken Fuß aufzustehen, wird man es tagsüber niemals recht machen. Besonders störend wirkte es auf allen Anwesenden im Aufenthaltsraum, wenn er brummig die Zeitung las, zornig auf den Parkettfußboden stampfte, daraufhin ungehalten umherging und sich in Tischgespräche einmischte, deren Inhalt er gar nicht kannte.
Doch am allerschlimmsten waren die Fernseh-Abende. Dann schnappte er sich nämlich die Fernbedienung und schaltete zwischen den Programmen hin und her. Mitten in einem Krimi, der kurz vor der Überführung des Täters stand, wirbelte plötzlich eine Schlagersängerin durchs Bild, um alsbald von zwei Boxern verdrängt zu werden, die nach kurzem Schlagabtausch einer Bundestagsrede die Mattscheibe überließen.
Begleitet wurden die plötzlichen Programmwechsel vom Aufstöhnen der fernsehwilligen Anwesenden, die sich um ihre Abend-Unterhaltung betrogen fühlten. Aber auch Gregor Groll machte sich akustisch bemerkbar. Er versah die von ihm verursachten Veränderungen auf dem Bildschirm mit bitterbösen Kommentaren und verletzenden Gedankensplittern. Sie flossen einfach aus ihm heraus und einige der Sentenzen entwickelten sich beim Personal zu Denksprüchen und durch die Räume flatternden geflügelten Worten.
Am Schwarzen Brett im Dienstzimmer hängt mittlerweile ein Zettel mit den drei beliebtesten Sprüchen. "Bei Gratwanderungen kann man niemanden an seiner Seite gebrauchen." - "Die Ehe ist die ironisch überspitzte Form der Liebe." - "Was der Stumpfsinnige für die Weite seines Horizontes hält, ist bloß der Rand seiner Scheuklappen".
Jener nörgelnde Mann war während seines beruflichen Lebens als Beamter eigentlich niemandem aufgefallen. Er bekleidete ein Amt, dessen einzige Aufgabe es war, sich selbst zu verwalten. Als kurzzeitiges Experiment gedacht, verselbständigte sich das Planspiel und wurde zum Spielplan einer Studie mit dem schönen Titel "Perpetuum Mobile", deren Ergebnisse niemanden interessierten.
Mit äußerster Disziplin, Ordnungsgefühl und Verhaltens-Instinkt sorgte Gregor Groll dafür, daß dieser so überaus empfindliche Versuchsballon niemals platzen konnte. Erst mit der Pensionierung kam ans Tageslicht, was fast vierzig Jahre im Schatten behördlicher Nischen und Winkel heimlich, still und vor allen Dingen leise unter der Hand geschehen war. Nämlich nichts.
In jenem peinlichen Moment administrativer Stümperei kam die künstlerische Ader der Verwaltung zum Vorschein und mit meisterlicher Bravour vertuschte sie alles.
Nach jenem Arbeitsleben in Unauffälligkeit erfolgte eine radikale Kehrtwendung des rüstigen Ruheständlers. Nun machte er sich bemerkbar, schrieb seitenlange Leserbriefe an die Tageszeitung, mischte sich von der Zuschauertribüne im Rathaus lautstark in politische Diskussionen ein, pöbelte bei Liga-Spielen mit dem Schiedsrichter herum. Wobei er selten sachlich blieb, denn von den meisten Angelegenheiten hatte er keine Ahnung. Für besonderen Gesprächsstoff im Ort sorgte schließlich sein im Selbstverlag vertriebenes Buch mit dem Titel "Der ideale Beamte legt sich selbst zu den Akten".
Vor einem Jahr nun, kam der alte Junggeselle in die Senioren-Residenz. Er wolle nicht mehr so allein sein, hatte er der Heimleitung erklärt. Außerdem habe er sich geändert, sei nicht mehr so rebellisch wie in den Briefen an die Zeitung oder in seinem Buch. Und da er sich freundlich, ja sogar liebenswürdig und charmant um einen freien Platz beworben hatte, wurde seinem Antrag schließlich stattgegeben.
Aber schon bald nach dem Einzug des Siebzigjährigen zeigte der sein wahres Gesicht. Mißgestimmt von morgens bis abends saß er im Speisesaal, durchstreifte die Flure oder hockte fuchsteufelswild auf der Terrasse. Jede Freundlichkeit des Personals oder der Mitbewohner wurde mit einer rabiaten Geste der Gereiztheit vom Tisch gewischt.
Und heute soll also Heinz Elmann zur Zielscheibe für die Giftpfeile der Gehässigkeit werden. Er hört schon das Zähneknirschen des bärbeißigen Mannes, obwohl der sich noch gar nicht zum Abendbrot unter dem Weihnachtsbaum eingefunden hat. Aber die Furcht vor rabiaten Entgleisungen im Zuge der kommenden Stunden wirft ihre dunklen Schicksalsschatten voraus.
Mit einem Mal wird die Tür geöffnet und Gregor Groll erscheint. Launisch blickt er zuerst in den Raum, dann auf seinen Betreuer. Die tiefen Stirnfalten auf der hohen Stirn verraten den Gemütszustand des Dauerempörten.
"Was für’n Schlangenfraß haben Sie denn heute für mich vorbereitet?"
"Da mit Ihnen nicht gut Kirschen essen ist, habe ich gedacht, daß wir uns von einem der hiesigen Lieferdienste einfach Ihr Lieblingsessen bestellen!"
Das Gesicht des Senioren wird von einem Moment zum nächsten aus seiner grantigen Grundhaltung geholt, ja, es wirkt fast schon freundlich. Ein ungewöhnlicher Anblick. Heinz Elmann ist von dem so überaus unerwarteten Umschwung beglückt. Mit frohem Mut suchen sie sich ihre Abendmahlzeit aus, ohne zu vergessen, auch eine Flasche Wein zu bestellen.
"Ach, Herr Elmann, Sie glauben gar nicht, wie anstrengend es ist, andauernd wütend und unwirsch zu sein. Aber mein Name verpflichtet; ich heiße nun mal nicht Fritz Fröhlich. Zudem war mein verwandtschaftliches Umfeld prägend. Mein Vater fertigte in seinem Elektro-Betrieb unterschiedlichste Widerstände, meine Mutter stellte in Heimarbeit widerborstige Handfeger her und mein Bruder war an den städtischen Bühnen, wobei er besonders für so manche Gegendarstellung das Lob der Kritiker erhielt. - Kurzum: Dieses unausstehliche Benehmen ist strapaziöser als man glauben mag. Man kommt sich vor wie ein Politiker. Wer sich jeden Abend vornimmt, am nächsten Tag wieder garstig zu sein, für den kann es ja nur ein böses Erwachen geben."
"Aber dann verstehe ich nicht, warum Sie mit dieser wüsten, gemeingefährlichen Verhaltensweise allen vor den Kopf stoßen. Warum haben Sie sich nicht auf angenehme Art den Menschen genähert? Ehrlich gesagt, ich hatte schon richtig Bammel vor dem heutigen Abend mit ihnen, so ganz allein!"
"Mir ging es nicht anders. - Nun, vielleicht kann Ihnen eine kleine Geschichte mein Verhalten erklären. Es war vor vielen Jahren, als ich noch gar nicht so genau wußte, was ich einmal werden sollte. In der Schule galt ich als Streber und war entsprechend unbeliebt. Dabei wollte ich doch so gerne wohlgelitten und umschwärmt sein. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte ich eine Idee, einen so verrückten Einfall, den heutzutage wohl niemand haben wird: In einer Dezember-Nacht schlich ich ins Fußballstadion. Im Mittelkreis erlebte ich die Morgendämmerung. Ein bißchen fröstelte ich, aber es erwärmte mich der Gedanke, schon bald von den Zuschauern gesehen und von den Fotografen in die Zeitungen gebracht zu werden.
Ich hatte die elf Buchstaben G-R-E-G-O-R G-R-O-L-L in einen Meter hohen Lettern aus Sperrholz ausgesägt und schwarz angemalt; ich wollte meinen Namen aufs Spiel setzen.
Als dann am Nachmittag kein einziger Stadionbesucher erschien, geschweige denn die Mannschaften, wurde mir klar, daß die Kicker vom 1. FC womöglich an diesem Samstag gar nicht spielen würden."
"Und diese Begebenheit hat Sie zeitlebens verbittert und unzufrieden gemacht?"
"Ich ballte die Faust und machte ein langes Gesicht, und so bin ich durchs Leben gegangen. Leicht ist es nicht, schwermütig zu sein. Denn nur äußerst selten fühlt man sich in seiner Haut wirklich wohl."
"Dann machen wir jetzt einen neuen Anfang! Mit schmackhaftem Essen und köstlichem Wein. Sowie einem Lächeln ... oder mehreren."
"Und meiner ganz persönlichen, von reichlicher Erfahrung gefütterten, ja wohlgenährten Vielosophie: Das Leben an sich ist eine Provokation, eine nachdrückliche Verpflichtung an uns selbst, denn wir sollen herausfordern, was in uns steckt. Wobei wir jedoch eines nicht vergessen dürfen: Die Beantwortung der komplizierten Lebensfragen sollte man nicht den Fachleuten überlassen, denn der Mensch ist ja bloß die Irritation seines Dafürhaltens."
Kiel, 30.12.2022 diesen Eintrag kommentieren
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Das wird sich alles finden
Eine irgendwo aufgestöberte Geschichte von Gerald Grote
Er war und ist ein Anfänger. Und im Moment sogar ein blutiger. Eine Saite der Geige ist gerade, mitten im Spiel, gerissen und ihm ins Gesicht gesprungen, woraus nun eine leichte Blessur an der vorwitzigen Kinnspitze resultiert. Wahrscheinlich hat er den Bogen überspannt und dadurch das Malheur eingeleitet.
Na, das fängt ja gut an, denkt er. Aber derartige Situationen sind beileibe nicht ungewöhnlich für ihn. Sie kommen eigentlich regelmäßig vor und sorgen dafür, daß es nach jedem hoffnungsfrohen Beginn einfach nicht mehr weitergeht.
Udo Unstet war vor fünfundvierzig Jahren auf reichlich unsicherem Boden geboren worden. In einer provisorisch hergerichteten Dachkammer eines ziemlich einsturzgefährdeten Hauses. Dort hatten seine mittellosen Eltern durch Fürsprache einer Freundin für einige Wochen einen Unterschlupf gefunden. Damals, in jener nicht weiter erwähnenswerten Kleinstadt, nach der nicht einmal ein Hahn krähte.
Und dort erblickte Udo, dessen zu dem Zeitpunkt noch unabgekürzter Name Nebudokadneza sich glücklicherweise als vorläufig herausstellte, das reichlich schummrige Licht der Welt. Auch wenn er sich daran nicht einmal dunkel erinnern konnte, blieb dieser lichtlose erste Eindruck für ihn lebensbestimmend. Denn die Folgejahre sollten noch finsterer werden. Was auch daran lag, daß sein zwielichtiger Vater dunkle Geschäfte machte und es in der Vergangenheit seiner Mutter einen dunklen Punkt gab, der zu allem Überfluß auch noch ein springender war.
Das färbte auf ihn ab. Schon als kleines Kind hatte Udo eine düstere Stimme und bei seinen ersten Gehversuchen tappte er sogar im Dunkeln. Als Schüler bemächtigten sich ihm schrecklich anhaftende Ahnungen. Denn seine Kameraden hatten ihn mal aus Jux mit seiner Handfläche, unter Zuhilfenahme einer erheblichen Portion Sekundenkleber, an die Schultafel fixiert. Um ihn für das darauf folgende umständliche Abschälen vom Untergrund zu entschädigen, erhielt er später aus der Klassenkasse etwas Lösegeld.
Ja, irgendwie war er immer der Dumme, der meistens neben sich stand. Ein drolliger Ersatzmann, sein eigener schnurriger Stellvertreter. Zu dieser Zeit sprach er gerne über Bleibsel, sein ziemlich zerliebtes Schmusetier unbekannter Gattung. Und über seinen Lieblingsvogel, den Grünschnabel. Später, im Lehrlingsinternat, holte ihn die Finsternis seiner Kindheit wieder ein. Deshalb bevorzugte er zappendustere Anzüge und ließ bei seinen gelegentlichen Schilderungen des persönlichen Werdegangs durch das Weglassen bestimmter Details seine Zuhörer im Dunkeln.
Zur Verbesserung des Lebensgefühls hatte er sich angewöhnt, immer kurz nach Mitternacht aufzustehen, dann fühlte er sich als ein Mann der ersten Stunde.
Als ihm dann ein Licht aufging und er endlich aus seinem eigenen Schatten treten konnte, befand er sich ganz am Anfang seiner beruflichen Laufbahn. Im Kollegenkreis der Stadtverwaltungsangestellten hielt man ihn für einen überspannten Spinner. Denn bei Betriebsfeiern trank er Alkohol nur verhältnismäßig mäßig, reagierte in Gesprächen vergleichsweise weise und war dabei auch noch seinem Gegenüber über. Das machte ihn fast so unbequem wie die hölzerne Wartebank im Finanzamt und noch unberechenbarer als eine Steuererklärung.
Bei aktuellen Aufgaben im Amt war er immer vorneweg. Wenn es darum ging, den Anfang zu machen, meldete er sich als erster. Die Kollegen verhielten sich diesbezüglich eher zurückhaltend. Denn sie wußten: Aller Anfang ist schwer. Aber für Udo war es genau umgekehrt. Denn ihm war es unmöglich, etwas abzuschließen. Da aber die meisten Verwaltungsarbeiten nie zu Ende gebracht werden, fiel niemandem auf, daß er bloß zu Beginn voller Elan war und im Laufe eines Vorhabens lediglich so lange das Feuer des Interesses schürte, bis ihn eine neue Obliegenheit brennender interessierte.
Überfordert von Dienstanweisungen, Paragraphen und Verwaltungsrichtlinien fühlten sich viele der Rathausmitabeiter erledigt. Nur Udo nicht. Im Gegenteil. Bei ihm war alles unerledigt.
Er war ein Andeuter, der Unvollständiges als abgeschlossenen Vorgang präsentieren, ein Andreher, der jemandem wider dessen Willen etwas unterjubeln konnte. Seine Tätigkeit wirkte stets dienstbeflissen, weil er alles geschickt anfing. Aber bei allem, was er beruflich machte, arbeitete er stets allein. Mit seinen Kollegen konnte er nichts anfangen.
Sein Fleiß war echt, aber ohne Ziel. Alles, was er jemals tat, blieb unvollkommen, schon am Anfang war Schluß. Sobald er eine behördliche Vorgangsakte anlegte und die erste Zeile in den Erfassungsbogen schrieb, fragte er sich: Ist dieser Satz nun vom Ende der Anfang oder vom Anfang das Ende? Wenn er glaubte, etwas zu verstehen, dann begriff er trotzdem nicht, weil er den Abschluß des begonnenen Gedankens niemals erlebte. Und genau in diesem Sinne blieb er auf Dauer ein Anfänger.
Vor wenigen Tagen kam es dann, wie es kommen mußte: Udo Unstet hatte mal wieder etwas angefangen. Aber dieses Mal war es ein Streit. Und den begann er ausgerechnet mit seiner Vorgesetzten. Wie sein eigenes Problem stand er gerade im Raum, als Frau Dr. Wider-Wille in sein Büro stürmte. Die etwas in die Breite gehende Dame im kleinkarierten Schurwollekostüm trachtete eigentlich danach, ihn zur Rede zu stellen; da er sich aber bereits in aufrechtem Zustand befand, war sie für den Bruchteil eines Moments verunsichert. Als sie daraufhin das Kunststück fertiggebracht hatte, sich wieder zu fangen, deutete sie auf einen handschriftlichen Vermerk, der deutlich lesbar auf einer Umlaufakte prangte.
Durch das fehlerhafte Setzen eines Kommas, hatte sich Udo Unstet den Zorn seiner überempfindlichen Chefin zugezogen. Denn statt des Satzes „Zum jetzigen Zeitpunkt des Verfahrens ist es schwierig für Frau Dr. Wider-Wille, eine Lösung zu finden“ war zu lesen: „Zum jetzigen Zeitpunkt des Verfahrens ist es schwierig, für Frau Dr. Wider-Wille eine Lösung zu finden“. Er versuchte die Situation mit einem Scherz zu retten und sagte: „Ach, es ist mit unserer Sprache ja auch manchmal wirklich zu vertrackt. Da gibt es beispielsweise grammatische Artikel, die sich nach der Tageszeit richtet. Morgens heißt es DER Weizen und DAS Korn, abends jedoch DAS Weizen und DER Korn.“
Nun kam zu dem dünnhäutigen Auftreten der dicken Ressortleiterin noch eine üppige Menge an Humorlosigkeit hinzu. Somit stand der Strafversetzung von Udo Unstet nichts mehr im Wege. Er wurde mit sofortiger Wirkung ins Pfundbüro abgeschoben, einer speziellen Abgabestelle für herrenlose Güter über 500 Gramm. Und das alles ereignete sich nur wenige Tage vor dem Weihnachtsfest.
All das geht ihm, dem Mann mit der Geige und der lädierten Kinnspitze, in den Räumen seiner neuen Wirkungsstätte im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf.
Aber das ist erst der Anfang seiner bockigen Gedankensprünge. Denn er ist, als er ein Tröpfchen seines Blutes herunterrinnen sieht, ohnmächtig zu Boden gesunken. Infolgedessen kreisen seine Gedanken so überaus schnell, daß ihnen beinahe auch noch schwindelig wird. Als sie sich etwas beruhigt haben, setzen sie eine Kette von Merkwürdigkeiten in Gang, die mit einer seltsam-befremdlichen Ungereimtheit vor Udos geistiges Auge treten.
Denn nun erscheint zunächst ein Uhrmacher und der fragt, ob für ihn womöglich ein paar Stunden oder gar Tage abgegeben worden seien, denn er habe viel Zeit verbummelt. Einen Augenblick später betritt ein Kind das Büro und sagt, es habe die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren. Und dann überstürzen sich die Ereignisse, geben sich die unterschiedlichsten Personen die Klinke in die Hand. Alle haben etwas verlegt, verschlampt oder versaubeutelt. Die Politikerin ihre Nerven, der Schneider den Faden, die Psychologin die Geduld, die Fremdenführerin die Orientierung, der Elektriker die Fassung, die Professorin den Verstand, der Pastor den Glauben und die Artisten den Boden unter den Füßen.
Im nächsten Augenblick sieht sich Udo durch die langen Korridore der Regalreihen gehen. Er betrachtet, was so alles verloren gegangen ist. Bei dem Buchstaben „A“ zum Beispiel entdeckt er Ansehen und Arbeitsplätze. Beim weiteren Abschreiten der Ablagen begegnen ihm unter „L“ die Lebensfreude, unter „M“ der Mut, unter „V“ das Vertrauen und unter „Z“ die Zuversicht. Er schüttelt verzweifelt mit dem Kopf. Das soll wirklich alles abhanden gekommen sein? Er kann es kaum glauben.
Und kurz, bevor er den Überblick und sich selbst verliert, kommt er wieder zu sich.
Noch etwas benommen erhebt er sich von seiner ungepolsterten Lagerstatt, dem harten Boden der Tatsachen. Soeben ist er wieder im Hier und Jetzt angekommen. Sein Schreibtisch, die Regalreihen, die Formulare. Alles ist da. Ja, und da liegt ja auch die Geige mit dem Bogen.
Er erinnert sich: In einem Anflug von Langeweile, gemischt mit einer Prise Leichtsinn, hatte er kurz über die Stränge geschlagen und der gefundenen Geige ein paar Töne entlockt, bis es zu dem schmerzhaften Saitensprung kam.
Gerade will er das Streich-Instrument an seinen Platz zurückbringen, als die Tür zum Pfundbüro geöffnet wird. Ein alter Herr mit dicker Pudelmütze, Wintermantel und beschlagenen Brillengläsern kommt herein, seinen prall gefüllten Rucksack langsam absetzend. „Werter Herr, so kurz vor Weihnachten sind die Mitmenschen besonders unkonzentriert und lassen Kostbarstes liegen. Und das verschwindet dann oftmals unwiederbringlich. Ich habe heute einige Dinge aufgelesen, die verloren wurden. Wertvolle Dinge, die ihresgleichen suchen. Und die möchte ich nun bei Ihnen abgeben.“
Bevor der verdutzte Udo Unstet noch etwas sagen kann, packt der ehrliche Finder bereits seine Schätze aus. Und da kommt so einiges zum Vorschein „Schauen Sie her, was ich alles abgeben kann. Ich habe Hoffnung gefunden aber auch Trost, Anerkennung, Beachtung, Zustimmung, Verständnis und vieles mehr. Hier, sogar ein Faden ist dabei.“
Und nach kurzen Pause ergänzt er: „Vielleicht können sie ja damit etwas anfangen!“
Kiel, 29.12.2021 diesen Eintrag kommentieren
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Aufgelesen
Eine ziemlich einseitige Geschichte auf drei Seiten von Gerald Grote
Der stetige Nieselregen und die frostige Winterwitterung sind eigentlich nicht das Schlimmste. Am Übelsten ist die Gefühlskälte der achtlos vorbeigehenden Leute. Sie gucken einen nicht mal an. Und wenn, dann höchstens von oben herab. Oder, wenn einer ihrer verwöhnten Hunde an einem kaltschnäuzig herumschnüffelt. Es gibt wenig Obacht für jemanden ohne Obdach; ohne Bleibe ist man wirklich das Allerletzte.
Seit zwei Tagen sitze ich nun hier in einer Seitenstraße jener großmauligen Kleinstadt. Es ist Heiligabend und mein Grund und Boden besteht aus einem schon etwas aufgeweichten Bananen-Karton, der den Minus-Temperaturen des Fußweges kaum trotzen kann. Rechts neben mir befinden sich zwei betagte Hörspielkassetten, deren Plastikhüllen ziemlich zerschrammt sind. Auf der linken Seite liegen eine Handvoll hinfälliger Video-Bänder, die auch keiner haben will. Und dazu noch vier angestoßene Weingläser mit Goldrand. Mann, was sind die häßlich.
Dieses Ensemble ist auch wirklich kein Hingucken wert, denken Sie wahrscheinlich, und Sie haben beinahe Recht, aber eben nur beinahe. Denn Sie kennen mich ja noch nicht. Im Gegensatz zu den beschriebenen Begleitern bin ich nämlich gar nicht so unattraktiv.
Wahrscheinlich ist das jetzt der geeignete Zeitpunkt, mich Ihnen etwas näher vorzustellen.
Um jeglichen feministischen Jollen den Wind aus den Segeln zu nehmen, muß ich eines vorweg nehmen: Ich habe keine Mutter, nur einen Vater. Er ist ein ziemlich akrobatischer Wortmagier und agiler Silben-Bändiger. Er heißt John Gleur. Diesem trickreichen Schriftsteller und seinen zauberhaften Gedichten habe ich meine Existenz zu verdanken. Ich selbst habe keinen Namen, denn ich bin nur ein Buch, sogar ein ziemlich dickes. Eines von vielen gedruckten Exemplaren, welches mit einem hübschen Einband und einem reizvollen Titel um die Gunst der Leser buhlt.
Offensichtlich hat sich mein Besitzer nicht mehr an mir erfreuen können. Er packte mich mit den anderen Gegenständen in einen Karton und setzt uns einfach vor die Tür. Von heute auf morgen. Dazu legte er noch ein schmierigen Zettel mit der Aufschrift „Zu verschenken!“
Vielleicht war es die etwas ruppige Art, mit der ich in den Karton geworfen wurde. Oder es lag an der Veränderung meiner Umgebungstemperatur. Genaueres kann ich darüber leider nicht sagen. Wahrscheinlich wissen Experten wie beispielsweise Buchprüfer oder Seiteneinsteiger darüber besser Bescheid. Auf jeden Fall hat mich irgendwas auf eigenartige Weise aus meiner verschwiegenen, buchtypischen Erstarrung befreit.
Es ist nämlich so: Bei der Herstellung von Büchern wird aus der schriftstellerischen Freiheit des Geistes und der Flexibilität seiner Phantasie durch deren Verteilung auf viele Seiten, den Druck und die einengende Bindung eine vollkommene Verkrampftheit erreicht, die jedoch bei mir nicht mehr existiert, wodurch sich die wunderbare Möglichkeit ergibt, mich Ihnen mitteilen zu können.
Reichlich benommen liege ich also nun da und bemerke, wie sich die Kälte langsam, aber sicher durch den viel zu dünnen Schutzumschlag hindurcharbeitet. Ein leichtes Zittern bemächtigt sich meiner Seiten. Ein Buch mit Gänsehaut. Bei diesen Temperaturen würden wohl auch einem Gebiß die Zähne klappern, ja, selbst Berufsverbrecher bekämen kalte Füße.
In meiner ersten Nacht da draußen, umgeben von diesem unheimlichen Dunkel, da dämmerte es mir. Ich hatte mein Gedächtnis wiedergefunden und konnte einige Stationen meines Lebens nacherleben. Und so verbrachte ich die Zeit bis zum Morgengrauen, indem ich in Erinnerungen schwelgte. Mit einer kleinen, aber durchaus dramatischen Unterbrechung, die mein Papier erzittern und mein schlankes Lesebändchen beklommen erschauern ließ. So sehr, daß es beinahe zu einem unförmigen Nervenbündel geworden wäre. Denn plötzlich tauchte ein schwankender, reichlich bezechter Mann auf, der in seinem haltlosen Zustand zu Buche schlagen wollte, was ihm jedoch mißlang. Der Hieb ging ins Leere, was ihm sein restlicher Körper offenbar übel nahm und ihn des Gleichgewichts beraubte. Wie ein gefällter Baum knickte er auch deshalb ein, weil er ja sturzbetrunken war. Neben der Bananen-Kiste blieb er für einen kurzen Moment liegen, berappelte sich umständlich und verließ dann den Schauplatz seines unrühmlichen Auftritts.
Aber kommen wir lieber zurück zu meiner eigentlichen Rückschau, die so unglaublich plastisch vor mir lag wie jener Gestrauchelte eben neben mir.
Meine Erinnerung setzt ein mit einem undefinierbaren Geräusch, einem knallend knirschenden Knattern, was aber auch ein sukzessives summendes Surren gewesen sein kann, welches unvermittelt in ein rollend rumpelndes Rattern überging. Oder war es doch eher ein trommelnd tosendes Tuckern? Egal, Details sind jetzt nicht so wichtig.
Ich entsinne mich jedenfalls an eine reichlich laute, aber saubere und ansehnliche Druckerei, in der ich zur Welt gekommen bin. Kräftige Greifwerkzeuge hatten mich aus der Entbindemaschine gezogen und der Mann, dem jene Hände gehörten, legte mich druckfrisches Exemplar, ohne es eines genaueren Blickes zu würdigen, auf die Palette mit meinen stapelweise vorhandenen, unzähligen Geschwistern. Ich mußte einen ziemlich fruchtbaren geistigen Vater haben.
Auf einem großen Schild über der Druck-Maschine stand: „Arbeite sauber, denn ein ordentlich editiertes und publiziertes Buch stellt einen Nachweis über Deine Fähigkeit dar, es ist Drucker-Zeugnis und Druck-Erzeugnis gleichermaßen.“
Ich wurde dann, zusammen mit meinen Verwandten, in ein großes Lager gebracht, wo alles ziemlich beengt und dunkel war. Dort blieb ich eine endlos lange Zeit. Ohne Hoffnung auf einen Lichtblick. Doch er kam, und ich wurde abtransportiert, dieses Mal in einem Pappkarton, der mitunter munter hin- und hergeworfen wurde. Schließlich gelangte ich in einen freundlichen, kleinen Buchladen mit einem noch freundlicheren Inhaber, der beim Auspacken mit den Büchern sprach und in ihnen blätterte, um sie ein wenig genauer kennenlernen zu können.
Beim verträumten Streicheln über meinen Einband sagte der Mann: „Ach ja, das ist das Buch, welches der alte Pflanzensammler Herr Barium bestellt hat.“ Dann schlug der Buchhändler eine x-beliebige Seite auf und begann zu lesen. Er schmunzelte und sah dabei so freundlich aus, daß man sich an seinem gütigen Blick erwärmen konnte. Ja, hier fühlte sich ein Buch wie zu Hause, dieser Laden mußte das Paradies sein, das Fabelland, wo Wort und Inhalt ineinander fließen.
Doch schon am nächsten Tag wurde ich aus meinen Träumen gerissen, denn der Mann, der mich bestellt hatte, wollte mich nun abholen. Vom Buchhändler wurde ich aus dem Regal genommen und kurzerhand in eine Papiertüte gepackt, welche ihrerseits von dem grummeligen Käufer in seine ziemlich überfüllte Einkaufstasche gestopft wurde. Inmitten von Tiefkühlkost, losem Gemüse und Konservendosen wurde ich weggetragen. Als man mich nach lebhafter Schaukelei aus der Enge meines Transportmittels befreite, muß ich arg mitgenommen ausgesehen haben.
Aber das war meinem neuen Besitzer ganz egal, denn er hatte mich als Sonderangebot erstanden, um zwischen meinen vielen, vielen Seiten seine vielen, vielen Pflanzen zu pressen. Die schönen Gedichte meines geistigen Vaters waren ihm vollkommen gleichgültig, Welch eine entwürdigende Situation für ein Buch.
Aber, wie wir wissen, sollte es ja noch schlimmer kommen. Denn nun liege ich hier ungeschützt in dem Karton, der mal voller Frucht war und nun voller Furcht ist. Ich habe Angst, mir schlottern die Seiten. Weil sie ja jeden Moment kommen könnten, meine natürlichen Feinde, die papierbohrenden Bücherwürmer und die umschlagnagenden Leseratten. Bei diesem Gedanken beginne ich zu beben und sehne mich nach dem geistlosen Pflanzenpresser zurück. Ich zitter an jeder Ecke meines kantigen Körpers.
Und wie ich so voller Selbstmitleid in mich trocken hineinweine, bemerke ich plötzlich eine warmweiche Hand, die mich greift und anhebt. Aus dicken Brillengläsern blicken mich liebenswürdige Augen an. Mit großer Zärtlichkeit werden einige Seiten aufgeblättert und wohlwollend studiert. Ein Lächeln breitet sich über das faltige Gesicht aus und der betagte Mann steckt mich sichtlich zufrieden in seine komfortable Umhängetasche.
Nur wenige Minuten später bin ich in einer beheizten Wohnung. Mein neuer Besitzer macht sich einen Tee und beginnt dann, bequem im Sessel sitzend, in mir zu lesen. Was ihm offenbar sehr gefällt, denn er kommentiert die Gedichte mit wohlwollenden Worten. Nach einer Weile spricht er direkt zu mir: „Ich weiß sehr wohl, daß Du ein besonderes Buch bist. Eines, daß aus seiner Erstarrung erwachte und plötzlich mitdenken kann. Es öffnet einem Buch die Augen, wenn man ihm den Rücken kehrt. So, wie es Dir widerfahren ist, ist auch anderen ergangen. Ich möchte Dir Deine neuen Freunde zeigen, die ebenfalls im Stich gelassen wurden und nun bei mir eine neue Bleibe gefunden haben.“
Er trägt mich auf die andere Seite seines Wohnzimmers, wo in einem großen Regal die unterschiedlichsten Bücher stehen. Mit den Worten: „Das ist ein neuer Freund, kümmert Euch ein bißchen um ihn!“ werde ich behutsam in das Bord gestellt, neben größere und kleinere Druckwerke. Und es sind vor allen Dingen die Biografien, die sich sofort um mich kümmern. Beispielsweise das voluminöse Stammbuch eines Baumexperten, das Enthüllungsbuch einer Nachtclub-Tänzerin und das Ringbuch eines Juweliers.
Aber auch die anderen Mitbewohner sind beileibe keine unbeschrieben Blätter, sie wissen ebenfalls Erstaunliches zu berichten: Der Atlas kennt Land und Leute, der Gedichtband macht sich auf alles einen Reim, und der Krimi erzählt so manche Räuberpistole. Besonderen Eindruck aber macht die mehrbändige Lexikonfamilie. Sie führt stets das große Wort, nennt griffige Begriffe und weiß alles besser. Manchmal kommt es deshalb zum Streit, wenn die neunmalklugen Wichtigtuer, die sich gerne Enzyklopädisten nennen, alle Romane, Sachbücher und Gedichtbände mit ihrer Rechthaberei gehörig ärgern. Dann haben alle eine Mordswut im Buch und es kann schon mal vorkommen, daß erst ein kräftiger Seitenhieb eines anderen Nachschlagwerkes unter Nutzung eines besonders spitzen Stichwortes für Ruhe sorgt.
Ja, dieses mehrstöckige Regal ist jetzt mein Zuhause. Und ich freue mich auf die täglichen Begegnungen mit schlanken Taschenbüchern und dicken Wälzern, literarischen Einzelgängern, aufsteigenden Bestsellern und heruntergekommenen Schmökern. Denn ich bin einer von ihnen, einer, der dazugehört, weil er da zuhört, wo nicht nur geredet, sondern etwas gesagt wird.
Kiel, 04.01.2021 diesen Eintrag kommentieren
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Zukunft war noch nie von gestern
Eine weihnachtliche Erzählung von Gerald Grote
Er wollte Geschichte schreiben. Und nun konnte er nicht einmal lesen. Alles erschien ihm schlagartig irgendwie verdreht, als seien die Seiten getauscht. In seiner Wahrnehmung machte sich zudem ein schwummeriges Schwindelgefühl breit. Vor Verzweiflung würde er jetzt am liebsten den Spiegel zerschlagen. Aber das wäre das Verkehrteste was er tun könnte, denn in dem Fall wäre er ja gänzlich verloren.
Ponkratius Pingel war ein Pedant wie er mustergültiger nicht vorstellbar ist. Aber beileibe nicht erst, seit er in der Politik als kleinlicher Ministeriums-Bürokrat die Umständlichkeit zur neuen Richtlinie erklärt hatte. Schon im zarten Grundschulalter ließ sich diese Tendenz ausmachen, ohne daß man sie ausmachen konnte. Also blieb sie unabgestellt und er zog sie, quasi wie ein Kind ein Spielzeug in Form eines Holzhundes auf quietschenden Rädern, an langer Lebensleine gedanklich hinter sich her.
Seine schulmeisterlichen Lehrer, eine engherzige Mutter und ein übergenauer Vater, der auf einem nahe gelegen Gestüt als Prinzipienreiter beschäftigt war, trugen dazu bei, daß alles so kam, wie es kommen mußte. Sogar seine Kleidung brachte seine Krämerseele zum Vorschein. Denn soweit er zurückdenken konnte, trug er ausschließlich kleinkarierte Flanellhemden.
Damals wollte Ponky, wie ihn seine Mitschüler abfällig nannten, unbedingt Friseur werden. Wegen der ungeahnten Möglichkeiten täglicher Haarspalterei. Oder aber Kirchenoberhaupt. Hätte man ihm diese Stelle angeboten, dann wäre er fraglos päpstlicher als der Papst geworden.
Doch dann kam alles ganz anders. Während eines Praktikums bei engstirnigen Gemüsebauern, arbeitete er als spitzfindiger Erbsenzähler. Dort entdeckte ihn ein dahergelaufener Parteifunktionär, der sofort das enorme Talent erkannte und den jungen Mann überredete, in einer Letterwarte eine Ausbildung zum buchstabengetreuen Wortklauber zu machen. Um in Zukunft über Zeichen gehen zu können.
Und genau das tat Ponkratius Pingel. Sogar mit Bravour und vollendeter Fulminanz. Denn er erledigte ja nicht nur seine Arbeit, sondern auch seine Kollegen und Konkurrenten. Und das ohne Wenn und Aber. Sozusagen von Amts wegen.
Sein Aufstieg in der Verwaltung verlief ruhig, aber durchaus kontinuierlich. Die durch ihn erwirkte Abschaffung des Schnellhefters erbrachte große Anerkennung, ermöglichte sie doch, endlich wieder zur gewohnten Gemächlichkeit zurückzukehren. Schleppende Schritte waren das Äußerste, was an Tempo zulässig war. Das galt auch für Behördenbesucher, die in den Fluren mit Gehgeschwindigkeitsbegrenzungsschildern gegängelt wurden.
Im Laufe seines unaufhaltsamen Werdegangs hat er unermüdlich neue Begrifflichkeiten der von ihm so überaus geliebten bürokratendeutschen Sprache zugänglich gemacht: das „raumübergreifende Großgrün“ bezeichnet beispielsweise einen Baum, der „einachsige Dreiseitenkipper“ umschreibt eine Schubkarre und die behördlich korrekte Bezeichnung für Brieftauben lautet „selbstreproduzierende Kleinflugkörper auf biologischer Basis mit fest programmierter automatischer Rückkehr aus allen beliebigen Richtungen und Distanzen“.
Und um die Akzeptanz der neuen, staatlich eingeforderten Gewerbe-Abgabe für Fotomodelle und Mannequins zu erhöhen, warb seine Abteilung mit dem Spruch: „Körper schafft Steuer“.
Im Zusammenwirken von behördlicher Begriffsstutzigkeit, offenkundigem Obrigkeitsvakuum und seiner extra langen Leitung wurde er allmählich zur Führungskraft. Dieser Umstand hatte auch mit der Zeit alberne Auswirkungen auf seine Frisur, die immer pomadiger wurde. Ein darauf folgender, nächster Karrieresprung war in Wirklichkeit nur noch ein gemächlicher Schritt. Denn von Regie bis zur Regierung sind es ja nur noch vier bummelige Buchstaben: Für weitere Kabinettstückchen ernannte man ihn zum Ministerialdirigenten.
Wenn Bürger einem derartigen Beamten begegnen, dann mit viel Mißtrauen und nur wenig Sympathie. Diese Umstände waren Pingel selbstverständlich bekannt, aber auch egal. Denn er wußte, daß Politiker nun mal Minimalisten sind, das galt auch für ihn: Waren sie früher mit dem Regieren beschäftigt, haben sie sich mittlerweile auf das Reagieren spezialisiert, wobei sich einige sogar auf das reine Gieren beschränken.
Obwohl er nun dick im Geschäft war, blieb er gertenschlank. Was er wohl in erster Linie seiner Absurdiät zu verdanken hatte: Morgens sich ein paar Akten zu Gemüte führen und mittags einen Mitarbeiter gebührend zur Brust nehmen. Und hatte er zwischendurch mal Zeit, dann genoß er das Abwarten und Tee trinken.
An manchen Tagen konnte es auch mal vorkommen, daß die gelegentlichen Anrufer in seine Schonkost-Maßnahme einbezogen und mit Worthülsen abgespeist wurden.
Genauso schmal wie Pingel, nur eben seitenverkehrt, war Legnip, sein reflektiertes Gegenüber, als er gegen Dienstschluß in den großen, funkelnagelneuen Spiegel blickte, den ihm seine Mitarbeiter zu Weihnachten geschenkt und zunächst provisorisch an die Wand gelehnt hatten. Der Herr Staatsdiener war über sein kristallklares Erscheinen in diesem Möbelstück dermaßen erstaunt, daß er sich zu einem Ausruf hinreißen ließ: „Heiliger Bimbam!“. Mehr Zeit für ein etwas ausführlicheres Verwundern blieb dem Erstaunten nicht.
Als er nämlich mit weit geöffnetem Mund dastand, als hätte ihn ein unbekanntes Formular befremdet, traf ihn, mit lautstarkem „Baff!“, ein heller Geistesblitz aus dem Spiegel. Darin konnte er für die Winzigkeit eines Augenblicks erkennen, wie er dumm aus dem Anzug guckte. Als ihm daraufhin die Spucke wegblieb und ein Gefühl des Ohrenschlackerns den ganzen Körper beschlich, erfaßte ihn gleichzeitig das mulmige Gefühl, plötzlich platt wie eine Briefmarke und von den Socken zu sein. Denn ehe er sich versah, erlebte er sein blaues Wunder. Er wurde mir nichts dir nichts in den Spiegel gezogen, während sein Ebenbild im selben Moment aus dem Rahmen fiel und daraufhin frei herumtänzelte.
Reichlich ungläubig schaute sich Ponkratius Pingel um. In eingeschränktem Maße, denn sein optisches Gefängnis ließ ihm dazu keinen allzu großen Spielraum. Außerdem waren Eigenbewegungen ja immer nur dann möglich, wenn das Gegenbild nicht gerade selbst in den Spiegel blickte. Doch genau das tat es eigentlich unentwegt, mit einer dreisten Fröhlichkeit in den unverschämt kecken Augen. Das war schon ein starkes Stück!
„Ja-ja, ich kann Deinem verblüfften Gesicht genau entnehmen, daß Du nur allzu gerne wissen möchtest, was gerade geschehen ist. Und mein respektloser Tonfall sagt Dir wohl auch nicht sonderlich zu, was? Aber das ist immer so: Wenn man jemanden nicht siezt, dann ist der verdutzt.“
Welch eine unhöfliche Frechheit offenbarte sich ihm da! Jener unverschämten Zumutung würde er am liebsten durch eine Beschwerde mittels amtlichem Vordruck auf extrasteifem Briefbogen in dreifacher Ausfertigung begegnen. Aber das jammernde Anstimmen von Klageliedern war ihm, wie er erschreckt bemerkte, in der aktuellen Situation gar nicht möglich.
„Nun“, begann sein strahlender Herausforderer, „jetzt will ich Dir mal erzählen, was hier in Deiner Amtsstube gerade passiert ist. Dafür mußt Du wissen, daß derartige Drolligkeiten nur widerwärtigen Widerlingen widerfahren. Und Du bist genau so einer. Ein Umstandskrämer, ein Federfuchser, ein Korinthenkacker. Ja, Du bist einer von den Beamten, die einfach einen x-beliebigen Gegenstand in einem Behörden-Korridor abstellen, nur um behaupten zu können, sie hätten etwas in Gang gesetzt.“
Diese Worte trafen den spiegelbildlichen Zuhörer tief ins kraM.
„Darum bin ich auch nicht Dein Abbild, sondern Dein Widersacher. Ein widerspenstiger Widerspruchsgeist, der heute, am 22. Dezember um 16.31 Uhr, seine Chance erhielt, Dir die Widersinnigkeit Deines Handelns zu zeigen. - Die drei Tage vor Weihnachten sind außergewöhnlich und tragen deshalb auch besondere Bezeichnungen, von denen leider nur noch eine einzige in den heutigen Sprachgebrauch gelangen konnte. Sie heißen ,Heiliger Bimbam’, ,Heiliger Strohsack’ und ,Heiliger Abend’. Wenn also am 22. Dezember ein Widersinniger wie Du vor einem Spiegel steht und ,Heiliger Bimbam!’ sagt, wird er für den Rest des Tages zu seiner eigenen Reflexion. Das geschieht urplötzlich, ehe man sich’s versieht, durch einen sogenannten Reziprokorpizer, der sich als Beschichtung auf jeder glatten Oberfläche befindet. Und so wurde ich, ruckzuck, zu Deinem Spiegelreflexkamerad.“
Wäre Ponkratius Pingel als widerscheinendes Ebenbild nicht sowieso zum Stummsein verdammt, hätte es ihm spätestens jetzt die Sprache verschlagen.
Ganz im Gegensatz zu ihm, hatte sein Widerpart eine unbeschwerte Leichtigkeit am Leibe. Er tänzelte tippelnd und tappelnd durch das Büro, legte eine kesse Sohle aufs Parkett und genoß die ungewohnte Bewegungsfreiheit. Aber auch den Triumph über den betonköpfigen Biedermann.
Wäre im Überschwang der rhythmischen Raumdurchquerung nicht ein Buch aus dem Regal gefallen, hätte die Geschichte hier ihr Ende finden können. Aber es gab diesen Sturz, der zu einem besonderen Fall wurde. Wodurch sich diese Erzählung um 2.673 Zeichen verlängert. Ab jetzt.
Beim unsanften Aufprall auf dem Parkettboden entfleuchte dem Buch eine Art bunter Rauchwolke. Sie wurde größer und größer, wobei sie sich zu einem unförmigen Etwas entwickelte. Dieser Dunstglocke entstieg schließlich ein hübscher kleiner Mann in buntem Anzug und roter Fliege, die wie ein Propeller herumwirbelte und für reichlich Wind sorgte, sodaß die Rauchwolke schnell verschwand. Der liebenswürdige Bursche mit der dicken blauen Brille hatte ein freundliches Gesicht. Er war ein Schöngeist wie er im Buche steht. „Bloß kein Geknarr, Gescharr, Wirrwarr, ich bin’s doch nur, der Büchernarr!“
Der hüpfend-hopsende Tanzbeinschwinger blieb vor der Erscheinung stehen und reichte seinem Gegenüber gutgelaunt die Hand. „Ich bin der Geist aus dem Spiegel, darauf gebe ich Brief und Siegel.“ Als hätten beide nur auf dieses schicksalhafte Zusammentreffen gewartet, begann sofort ein lebhaftes Gespräch. Die Zwei hatten sich offenbar viel zu erzählen und Ponkratius Pingel staunte nicht schlecht, welch wunderbare Munterkeit sich seines sonst so tristtraurigen Bürotrakts bemächtigte. Er konnte der angeregten Unterhaltung zwar nicht folgen, hörte aber gelegentlich von einer der beiden Personen ein lautes „Aha!“ Dieser Ausruf des Verstehens machte den Bürokraten neugierig und sollte ihm schon bald ein ganz persönliches Aha-Erlebnis bescheren.
Es muß wohl kurz vor Mitternacht gewesen sein, als der Narr wieder als Wolke in dem Druckwerk verschwand, dem er so rätselhaft entschlüpft war. Ponkratius Pingel konnte sehen, wie das Buch daraufhin von seinem Spiegelbildgeist wieder ins Regal gestellt wurde. Dann nahm der ein Stück Papier und schrieb etwas darauf, augenscheinlich eine Nachricht, gedacht für den Mann, den die verrinnende Zeit in wenigen Augenblicken aus seiner mißlichen Lage befreien wird.
Und dann war es soweit. Die Reflexion postierte sich in aller Seelenruhe vor dem Spiegel, ein richtiges Lächeln im seitenverkehrten Gesicht. Es folgte ein kurzes, flackerndes Aufleuchten, welches den ganzen Raum erfüllte. Lautlos, aber blitzartig, in Null Komma nichts, tauschten beide ihre Positionen, sozusagen im Handumdrehen.
Ponkratius Pingel kämpfte mit einem mächtigen Schwindelgefühl. Diese duseligen Denkkraftdissonanzen erinnerten ihn an die eigenartigen Wettkämpfe, welche er früher gerne mit Kollegen bestritten hatte und wobei es darum ging, auf einem Bürodrehstuhl möglichst lange in Höchstgeschwindigkeit herumzukreiseln. Beamten-Rodeo nannten sie das damals.
Noch reichlich benommen suchte er den Raum ab, um die Notiz zu finden, die sein Ebenbild für ihn hinterlassen hatte. Als sein ratloser Blick auf den immer noch ruhig lächelnden Widerpart fiel, zwinkerte der ihm zu. In dem Moment entdeckte Pingel das Stück Papier, faltete es ordentlich auseinander und las sich die Worte laut und betont langsam vor: „Manchmal glaubt Du, etwas zu überblicken. Aber in Wirklichkeit übersieht Du es nur. Deshalb darf man bei politischen Entscheidungen nicht nur dem Denken folgen, sondern muß auch an die Folgen denken.“
Fürwahr, fürwahr, dieser Zettel war bestens geeignet, sich ihn hinter den Spiegel zu stecken.
Kiel, 25.12.2019 diesen Eintrag kommentieren
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Bitte Recht freundlich
Eine juristische Kurzgeschichte von Gerald Grote
Der Auslöser für eine der größten Krisen der kommenden Zeit wird ein einfacher Brief sein. Ein fein im Zickzackfalz geknicktes Schriftstück mit dem gewissen Kniff, dessen brisanter Inhalt sich dadurch erst ganz allmählich entfalten wird. Außerdem werden die Empfänger über die Bedeutung jener Zeilen lange und ausgiebig nachdenken müssen. Das ist wie bei einem guten Wein, der ja auch erst nach dem Einschenken in ein Glas allmählich sein Aroma entwickelt.
Was heute noch wie ein Märchen klingt, kann morgen Wirklichkeit sein. Hier ist so ein Märchen von demnächst. Eine Vorahnung, eine düstere Hellseherei. Nutzen wir diese einmalige Gelegenheit und entziffern die kommenden Buchstaben. Aber wir sollten dabei äußerste Vorsicht walten lassen! Der Sinnzusammenhang der künftigen Schriftzeichen entwickelt nämlich bisweilen kriminelle Fertigkeiten, denn er ist in der Lage, unseren Verstand zu rauben.
Jener Brief kam kurz vor Weihnachten, stammte von der amerikanischen Firma „Mon Santa“ und richtete sich an die Bundesregierung. In dem Schreiben mahnte man an, daß der Weihnachtsmann eine Erfindung der USA sei und deshalb müsse die weihnachtliche Amtssprache künftig englisch sein. Womit wohl die minimale Variante der britischen Artikulationsweise gemeint ist, die man im Land jenseits des Atlantiks von sich gibt.
Außerdem, so hieß es in dem Schriftstück weiter, habe die Firma „Christmas Mass“ vor wenigen Wochen sämtliche Rechte an dem Jahresendfest gekauft. Weltweit. Mit weitreichenden Konsequenzen. Alle Attribute der feierlichen Tage müßten nämlich, vom nächsten Jahr an, beim Lizenzinhaber angefragt und erworben werden. Gegen eine entsprechende Gebühr selbstverständlich.
Jeder Weihnachtsbaum, jede Weihnachtskerze, jedes Weihnachtsornament wird
künftig nicht mehr der Allgemeinheit gehören, sondern einem Konzern, dessen
Juristen sogar prüfen, ob Neuschnee nicht auch zu diesen lizenzpflichtigen
Produkten gehören müsse.
Welche Bedeutung haben diese ungeheuerlichen Vorgänge? Werden wir bald ausgenommen wie eine Weihnachtsgans? Was ist mit Bescherung, Besinnlichkeit und Bratapfel? Gabentisch, Glockenklang und Gaumenfreuden? Sind nun für alle Zeiten die Lebkuchen gestorben?
Ein komplex-kompliziertes Regelwerk läßt keine rechtlichen Lücken, keine legitimen Schlupflöcher mehr offen. Man habe aus der geräteunabhängigen Haushaltsabgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland gelernt, hieß es dazu aus der amerikanischen Konzern-Zentrale. Deren Anwälte vor Aktivitäten nur so strotzen. Im Zuge ihrer Rechtsbesessenheit haben sie der Jägerschaft von Forstheim irrtümlich eine Abmahnung geschickt, um das traditionelle Herbstfest zu verbieten, die altehrwürdige Geweihnacht.
Ja, man konnte es fast hören: hier pochte jemand auf sein Recht.
Indes bemühte sich die Politik, Beschwichtigungsformeln und Verharmlosungsfloskeln über die Medien zu verbreiten. Ohne Erfolg. Das gesellschaftliche Leben war erstarrt, weil die Bevölkerung in einen andauernden Schockzustand verfiel.
Die Volksgesundheit veränderte sich dramatisch. Chronisch stabile Schwindelanfälle mit gelegentlichen Flunkereien waren da noch das kleinere Übel. In einigen Gegenden gab es sogar Bluthochdruckgebiete.
Reihenweise sahen sich Unternehmen in ihrer Existenz bedroht, die mit der Produktion von Weihnachtsartikel ihr Geld verdienten. Christbaumkugel-Fabriken stellten vor Schreck birnenförmigen oder sogar eckigen Hängeschmuck her, Wachskerzen schrumpften ohne erkennbaren Anlaß, stattliche Schokoladenweihnachtsmänner verloren ihre stramme Haltung und sackten in sich zusammen. Der so typische Weihnachtsduft verflüchtigte sich, Weihnachtslieder verstummten und auch jeder andere Brauch lag brach. Kein einziger Weihnachtsbaumverkäufer kam mehr auf einen grünen Zweig. Die allgemeine Weihnachtsstimmung war auf einem ungeahnten Tiefstand. Und über allem stand die bange Frage: Läßt sich das Rad der Weihnachtsgeschichte vielleicht doch noch zurückdrehen?
Die Nachrichten-Korrespondenten berichteten taglang von nichts anderem. Arbeiter gingen auf die Straße, die Vorsitzenden der neugegründeten Weihnachtsgewerkschaft sprachen zum Volk, Kinder weinten weltweit auf allen Kanälen. Und Minister taten, was sie in besonders wichtigen Angelegenheiten gelegentlich schon mal gemacht hatten, auch wenn es ihnen jetzt schwerfiel: Sie ergriffen die Sache für die Partei und sie ergriffen Partei für die Sache.
Das häßliche Wort „Krise“ machte die Runde. Die Verbraucher befiel Panik. Nicht nur in Tierhandlungen kam es zu Hamsterkäufen. Der Einzelhandel befürchtete für die Zukunft das Ausbleiben des alljährlichen Shopping-Tinitus, des KaufRausches. Die Weihnachtswirtschaft drohte in allergrößte Schwierigkeiten zu geraten ...
Der Rechtsanwalt Kuno Kadi las gerade seine Morgenzeitung, die zum wiederholten Male das leidige Weihnachtsthema mit großen Überschriften in vielerlei Artikeln und Kommentaren bearbeitete. Der Jurist schüttelte ob dieser einseitigen inhaltlichen Ausrichtung gerade den großen Kopf, als ihn, ausgelöst durch jene Hauptbewegung, ein durchtriebener Einfall abrupt zusammenzucken ließ und ein nachfolgender, ziemlich gewitzter Gedanke zum Lächeln brachte. Ja, so könnte es tatsächlich gehen, dachte der findige Advokat, und trank einen großen Schluck Pfefferminztee, der mit einer extra großen Portion raffinierten Zuckers gesüßt worden war. Dadurch war der Jurist jetzt besonders auf Zack.
Er ging pfiffig zum Garderobenspiegel und band sich wie jeden Morgen ein Paar teure, farblich aufeinander abgestimmte Schleifen unter den seidenen Hemdkragen. Das Ritual war übrigens seiner wöchentlichen DiskussionsFernsehsendung geschuldet, deren Titel ihn zu dieser optischen Doppeldeutigkeit veranlaßte. Ein Wortspiel, daß zudem die Redegewandtheit ihres Moderators herausstellte: „Zwei Fliegen mit einer Klappe“.
Als Kuno Kadi mit gewieftem Gesichtsausdruck in seinen ausgebufften Anzughosen leichtfüßig das Büro betrat, wußte er genau, was nun zu tun war. Mit etwas trickreicher Taktik und einer lustigen List werde er das Kind schon schaukeln. Außerdem sprachen auch die optischen Gegebenheiten für einen erfolgreichen Verlauf seines Vorhabens. Beispielsweise ein plumpes Erbstück, welches er mit Stolz trug: Das noch funktionsfähige, etwas klobige Hörgerät seiner Großmutter, was dazu beitrug, daß er es faustdick hinter den Ohren hatte. Und durch sein Hobby, der jahrelang betriebenen Hochseilartistik, welche er bei
jeder Gelegenheit in seinem Büro ausübte, war er sowieso immer auf Draht. Deshalb war ja auch auf seiner Visitenkarte ein Stehaufmännchen abgebildet sowie als Wahlspruch zu lesen: „Clevererer als alle anderen“, und genau das wollte er jetzt beweisen.
Er nahm das juristische Standardwerk „Schwörarbeit“ zu Hand, die LuxusAusgabe mit paragraphengrauem Leitfaden, herausgegeben von den Rechtsgelehrten R. Laß, D. Kret, G. Heiß und B. Fehl. Nach kurzem Blättern legte er das Buch beiseite. Denn jetzt wußte er, wie er vorgehen mußte. Also rief er seinen Gehilfen Dick Tat, um ein schnelles Stenogramm aufzunehmen.
Während Kuno Kadi seine wohlgesetzten Worte zu Papier bringen ließ, hatte er sich sein Strickzeug aus der Schreibtischschublade genommen und setzte die Nadeln in Bewegung. Derartiges tat er immer in Situationen, die Anlaß gaben, sich in die Wolle zu kriegen. Und das war hier im höchsten Maße der Fall. Darum zog er die Maschen des Gesetzes auch besonders eng.
Sein kurzer Brief an „Mon Santa“ hatte es dreifach in sich. Er war wie ein Tritt in die Kanzlei, ein Hieb ins Büro und ein Schlag ins Kontor. Und dieser Anstoß zwang das Unternehmen in die Knie. Mit gehißter weißer Fahne wurde die Flinte ins Korn geworfen. Kleinlaut mußte man einlenken und alle Versuche, sich des Weihnachtsfestes zu bemächtigen, aufgeben. Aus den Wogen wohlgezielter Worte waren beim Adressaten hochschlagende Wellen geworden, gegen deren Brecher man wenig entgegenzusetzen hatte:
„Womöglich ist der Weihnachtsmann eine amerikanische Erfindung. Kann unter Umständen eventuell gegebenenfalls vielleicht sein. Sicher aber ist Amerika eine europäische Entdeckung. Und der Name wahrscheinlich sogar deutschen Ursprungs. Als nämlich ein Freiburger Kartograph im Jahr 1507 eine Weltkarte zeichnete, nutze er erstmalig das Wort ,Amerika’. Und das kam so: Auf der Suche nach einem Terminus für den neuen Kontinent fiel ihm seine Tante Erika Am ein, die immer in Fahrt und häufig aus dem Häuschen war; durch die umgekehrte Zusammensetzung ihres Namens fand er den gesuchten Begriff.
Ähnliches ist übrigens bei den späteren Benennungen einiger Ihrer heutigen Bundesstaaten geschehen. Denken Sie nur an Egon Or oder Diana In. Noch eindeutiger geben andere Bezeichnungen ihren Ursprung preis: Ida Ho, Michi Gan, Mary Land, oder Louis Iana.
Sollten Sie nun auch weiterhin darauf bestehen, Ihre Rechte an Weihnachten zu beanspruchen, werden wir Ihnen die mehr als fünfhundert Jahre währende, unentgeltliche Nutzung des Namens ,Amerika’ in Rechnung stellen und uns bezüglich der Bundesstaaten weitere Schritte vorbehalten.“
Dem Brief legte Kuno Kadi noch zwei Dinge bei: einen Bleistift, um einen Schlußstrich zu ziehen und einen Schwamm, mit dem man über die unrühmliche Angelegenheit wischen sollte.
Das zeigte Wirkung. Auf diese Art und Weise konnte ein einzelner Anwalt mit der Kraft seiner Worte das Weihnachtsfest retten. Er hat mit seiner Geistesgegenwart der Zukunft zum Sieg verholfen. Zumindest in diesem Märchen von demnächst.
Aber eines ist auch wieder deutlich geworden: Angesichts vielfältiger ungelöster Aufgaben, Krisen und Probleme wird es von Jahr zu Jahr immer mühevoller, den Festtagen eine feierliche Fröhlichkeit abzugewinnen. Die Nüsse, die es zu knacken gilt, werden immer härter. Ja tatsächlich, es weihnachtet schwer.
Kiel, 29.12.2018 diesen Eintrag kommentieren
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Auf gut Glück
Es ist Sommer und ganz kurz davor, daß der Weihnachtsmann erfunden wird, als wir einem sonderbaren Mann mit verschrobenem Verhalten und schrulligem Schleichgang in einem reichlich abgelegenen Landgasthofes begegnen.
Dabei handelt es sich um Puschie Plem. Der alte Junggeselle ist der Betreiber der Schenke „Zum mürrischen Müller“. Seine Gäste nennen Puschie den wütenden Wirt. Denn er ist rabiat und fuchsteufelswild. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Er steht jeden Morgen mit dem linken Fuß auf und spätestens gegen Mittag läuft ihm die erste Laus über die Leber. Dann färbt sich seine Gesichtshaut ganz dunkel, weil er sich schwarz ärgert und rot sieht. Ihn stört die kleinste Fliege an der Wand. Und von diesem umherschwirrenden Ungeziefer gibt es reichlich viele Exemplare in seinem rustikalen Etablissement.
Wenn er an manchen Tagen bloß brummig und bärbeißig ist, empfinden das seine Gäste bereits als übermütig-heitere Stimmung.
Der Mann hinter dem Tresen macht eigentlich immer ein langes Gesicht und ballt dazu noch die Faust. Obwohl er an und für sich wenig Grund hat, verärgert zu sein. Denn er besitzt die einzige Kneipe im Ort und das Haus ist längst abbezahlt.
Trotz behaglicher Einrichtung kann Puschie Plem in seinem Gasthaus reichlich ungemütlich werden. Dann braust er auf wie ein undichtes Schaumweinfaß und alle Anwesenden bekommen davon etwas ab. Als wäre ein Geduldsfaden gerissen, der Kragen geplatzt, die Galle übergelaufen und der Kaffee am Hochkommen. Wenn er auch nur andeutungsweise Kenntnis darüber hätte, wie er es anstellen muß, dann wäre er sicherlich auch schon mal aus der Haut gefahren.
Dem wilden Mann ist sein Verhalten im Grunde seines Herzens selbst unangenehm. Zumindest am späten Abend, wenn er zur Ruhe kommt, die meisten Gäste gegangen sind und nur noch sein Freund Gerwin Guschel, der gutmütige Gutsherr, bei ihm am Tresen sitzt. Dann überkommt den Wirt ein derart großer Katzenjammer, daß man meinen könnte, man würde ein Miauen hören.
Diese maßlose Traurigkeit treibt ihm regelmäßig zentimeterdicke Tränen in die Augen, was dazu führt, daß er genauso regelmäßig darüber nachdenkt, sein Lokal zu einer Wein-Stube umzufunktionieren.
Aufgewühlt, als hätte ihm ein Gast beim Bezahlen statt einer Münze einen Dämpfer gegeben, stampft er unverhofft trotzig auf den Boden der Wirklichkeit. Heroisch beißt er die wenigen Zähne zusammen. Weil er ernsthaft vorhat, sich endlich zu ändern. Denn so kann es doch nicht weitergehen. Diese Verdrossenheit, dieses Unbehagen, dieser Mißmut muß ein Ende finden!
Aber dann, am nächsten Morgen, sind alle seine guten Vorsätze unauffindbar. Obwohl er sofort nach dem Aufwachen danach sucht. Als hätte eine böse Bö die guten Absichten in alle vier Winde hinweggeblasen.
Und dann beginnt eine qualvolle Körperkolik, die einer Marter gleicht. Zuerst bemächtigt sich eine Gänsehaut seines gebeugten Rückens und überzieht von dort aus seine ganze Gestalt. Dieses unangenehme Gefühl wird begleitet von einem verdrießlichen Schüttelfrost mit schaurigem Schuddern. Zu guter Letzt schlottern ihm die weichen Knie und er bekommt kalte Füße.
Denn diese unerquicklichen Erscheinungen machen ihm gehörig Angst. Weil alle körperlichen Auswirkungen sofort verschwinden, wenn er seine gewohnte schlechte Laune an den Tag legt. Und das muß er wie ein Drogenabhängiger tun, mit stetig steigender Vehemenz. Denn er ist Streitsüchtig.
Darum also ist für Puschie Plem der schönste Sonnentag finster wie die Nacht. Darum wird er zunächst frostig wie ein Schneemann und ungesellig wie ein Lehrling. Darum erlebt man ihn in der zweiten Unzufriedenheitsentwicklungsstufe verbohrt wie einen Handwerker und unbelehrbar wie einen Pädagogen. Darum entsagt er schließlich allen Bemühungen, sich ihm freundschaftlich zu nähern und verhält sich zugeknöpft wie eine alte Jungfer und dialogunfähig wie ein schlechter Schauspieler.
Eines Sommerabends im Juni sitzt er mal wieder mit Gerwin Guschel zusammen und schüttelt tieftraurig den schweren Kopf. Die vergangenen Minuten haben nämlich einen besonders jähzornigen Wirt erlebt. Er fühlt sich schlecht, das Geschehene ist ihm unangenehm, und darum hockt er da wie fehl am Platze, belämmert wie ein Schaf.
Als vor wenigen Augenblicken die beiden Stammgäste Rappel und Koller höflich darum baten, Puschie möge ihre Zeche anschreiben, kam es zu einem eruptiven Wutausbruch, der in einen turbulenten Tobsuchtsanfall mündete.
Von allen guten Geistern verlassen öffnete der wirre Wirt mit irrem Blick die Tür seines halbvollen Geschirrkastens, um unmißverständlich anzuzeigen, nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben. Dann deutete er auf das wabbelige Gebäck auf dem Tresen und bewies durch beherztes Hineinbeißen in das mürbe Plätzchen, daß er auch einen weichen Keks hatte. Schlußendlich warf er, zum Erstaunen der kopfschüttelnd zuschauenden Zecher, eine übergroße Tonschale auf den Boden und machte einen Sprung in die Schüssel, wobei er „Haschmich!“ rief. Immer wieder „Haschmich!“ Dann rannte er rasend nach draußen und war vollkommen aus dem Häuschen.
Spätestens jetzt wird allen Anwesenden eindeutig klar: Der Wirt ist nicht bei Trost; aber den bekommt er glücklicherweise von seinem Freund Gerwin.
Es wird für die Beiden eine lange Nacht und Plem erzählte alles. Obwohl er sich ein ums andere Mal am liebsten in ein Mäuseloch verkriechen möchte. Keine unliebsame Taktlosigkeit, keine mulmige Situation, keine noch so peinliche Angelegenheit wird ausgeklammert. Seine wortreichen Schilderungen werden allerdings immer wieder unterbrochen von langen Schluchz-Symphonien und Heul-Attacken.
Es grenzt geradezu an ein Wunder, daß sein Gasthaus dabei unversehrt bleibt und die vielen Tränen keinen einzigen Stein erweichen können.
Aber vielleicht liegt das daran, daß es den Freunden gelingt, den WutVerursacher ausfindig zu machen. Er ist klein und unscheinbar. Eine Winzigkeit, die sich in der Heu-Matratze des Bettes befindet. Ein pieksendes Getreidekorn, welches dafür sorgte, daß Puschie nachts der Hafer stach.
Als es draußen allmählich hell wird, dämmert es auch den beiden Männer und sie hecken einen Plan aus, der verrückter nicht sein kann.
Sie beschließen nämlich, den Menschen in der kleinen Gemeinde eine Gabe zukommen zu lassen. Egal ob jung oder alt, ob arm oder reich; jedweder hat ein Geschenk verdient. Denn sie haben ausnahmslos alle unter Puschies Launen gelitten.
Aber diese Verteilung muß gut vorbereitet sein. Die Präsente müssen ja erst noch hergestellt und dann schön eingepackt werden, bevor man sie überbringen kann. Und das geht nicht von heut auf morgen. Darum bietet sich dafür das Christfest im Winter an. In der kalten und dunklen Jahreszeit ist jede Art von Herzenswärme mehr als willkommen.
Um einen möglichst spektakulären Auftritt zu haben, soll Puschie Plem mit einem vierspännigen Pferdeschlitten umherfahren. Kleine Glocken an den Hälsen der Tiere sollen ermöglichen, daß man sein Näherkommen schon von weitem hören kann. Und auf der Ladefläche hinter dem Kutschbock werden dann die bunten Päckchen liegen.
Selbstverständlich darf bis dahin nicht riskiert werden, daß der Wirt in alte Unsitten verfällt. Darum nimmt ihn Gerwin Guschel mit auf sein Anwesen „Gut Glück“. Dort ist Puschie unter sanftmütigen Menschen. Selbst ein Fünfjähriger, der noch nicht bis drei zählen kann, ist achtsam. Und die Zupfinstrumente des Barden sind zartbesaitet und mild gestimmt.
Und in dieser friedfertigen Atmosphäre kommt Plem, wie aus einer langen Ohnmacht erwachend, endlich wieder zu sich. Er fühlt sich wie von drückenden Lasten befreit vollkommen unbeschwert. Endlich hat er wieder leicht reden und trotzdem haben seine Worte durchaus Gewicht.
Da ist es kein Wunder, daß er nicht nur Hoffnung schöpft, sondern auch ein Werk von buchstäblicher Tragweite. Denn ihm gelingt eines Abends so ganz nebenbei der Entwurf eines flauschigen Herren-Mantels, der nicht aus der Mode kommen wird. Seine stoffliche Überweite gibt Bewegungsfreiheit und paßt sich auch allen körperlichen Unzulänglichkeiten an, seine Farbe signalisiert die Liebe. Dieses Kleidungsstück werde er sich schneidern lassen und tragen, wenn er sein Gaben verteilt. Und einen dynamischen Ausruf für seine vier Pferde hat er auch schon:
„Ho-Ho, Ho-Ho!“ was soviel heißt wie: „Hopp-Hopp, holde Hottehüs!“
Puschie ist wie verwandelt und will das auch seinen Mitmenschen mitteilen. Deshalb gibt er der Gaststätte ab sofort einen neuen Namen und nennt sie „PlemPlem“. Und um seine überschüssige Energie endlich in konstruktive Bahnen zu lenken, nimmt er sich vor, jeden Morgen die Einrichtungsgegenstände in seiner Kneipe etwas umzustellen. Darum ergänzt er das Schild mit einer passenden Unterzeile: „Keine Angst! - Hier werden nur die Möbel verrückt.“
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Von oben bis unten
Ich hatte mich breitschlagen lassen. Und fühlte mich auch so. Irgendwie flunderig. Eben wie ein Etwas von niedriger Höhe. Oder eine Politikerrede ohne Tiefgang. Als wäre ich selbst flachgefallen.
Man hatte auch alles Erdenkliche versucht, mich umzustimmen. Mich bearbeitet, beschwatzt, bekehrt. Mit Rosen angestachelt, mit Bier beeinflußt, mit Gebäck zermürbt. Bis ich nachgab, mich beugte wie ein Diener, die Segel strich und die weiße Fahne hißte, mich erweichen ließ wie ein harter Keks im Frühstückskaffee.
Obwohl ich nicht müde wurde, zu behaupten, daß ich dafür eigentlich keine Zeit hätte. Denn schon seit Jahren brütete ich an einer Formulierung, einem leisen Wortlaut, der alle Menschen, die ihn lasen, glücklich machte. Sozusagen augenblicklich. Selbstverständlich ohne Wenn und Aber.
Doch so manche Ausdrücke sind wie Alpinisten, denn sie übersteigen alle Begriffe. Andauernd auf der Suche nach diesem Zauberspruch, war ich selbst schon etwas wunderlich geworden. Allerdings hatte ich gerade heute das Gefühl, daß mein Vorhaben unter einem guten Stern stünde. Denn als mir am Morgen eine Tasse aus dem Küchenschrank auf den Kopf fiel, sah ich einige dieser Himmelskörper. Doch anstatt jetzt am aufgeräumten Schreibtisch zu sitzen, stand ich nun auf meinem zugerümpelten Dachboden. Wohin ich auch blickte, überall nur Kram, Krempel, Krimskrams. Und zwischen all dem Plunder wollte ich wirklich einen besonderen Karton finden? Das konnte eigentlich nicht klappen.
Was ich aufspüren wollte, war eine alte Schachtel. Ein hochbetagtes Pappbehältnis, in dem sich ein Weihnachtsmann-Kostüm mit dazugehörigem Bart befand. Eben jene Original-Verkleidung, welche mir schon zu meiner Kinderzeit gehörig Aufregung am Heiligabend beschert hatte.
Ich hatte nämlich leichtsinniger Weise, nach langem Hin und noch längerem Her, eingewilligt, bei einem Freund die Verteilung der Festtags-Geschenke für seinen fünfjährigen Sohn vorzunehmen! Heute! In wenigen Stunden!!!
Eigentlich hätte ich mich sofort abwenden müssen und das kunterbunte, staubige Durcheinander für weitere Jahre seinem Schicksal überlassen sollen. Wie ich es schon so häufig getan hatte. Denn hier oben gab es keine Boden-Schätze. Aber irgendwas hielt mich heute fest. Als hätte der unansehnliche Mischmasch an diesem Tag eine ganz besondere Anziehungskraft.
Mich überkam das Gefühl, daß sich der Anblick dieser ungeordneten Ansammlung von ungeliebten Gegenständen auf mein Gemüt gelegt hätte. Denn ich dachte plötzlich durcheinander. Von überall schienen konfuse Eingebungen auf mich einzuwirken. Es grübelte, brütete, sinnierte in mir. Beinahe hätte ich die Fassung verloren, konnte mich jedoch gerade noch rechtzeitig am Riemen reißen, wodurch mir sofort klar wurde: Ich hatte einen Rappel bekommen, der mir jetzt mit großen Schritten durch den Kopf ging. Und mich zwang, einen mir unbekannten Laut auszustoßen: „Trowtiez!“
Völlig entrückt mit wirren Einfällen, suchte ich eine Gedächtnisstütze und lehnte mich an einen der Holzbalken des Dachbodens. Mir war zwar etwas schwindlig, aber trotz leichtem Taumel stand ich über den Dingen. Ich zuckte mit der Wimper und trat auf der Stelle. Doch anstatt erst einmal Luft zu holen und in Gelassenheit zu versuchen, die Haltung wieder zu erlangen, begann ich unvermittelt zu hopsen und zu hüpfen.
„Das sind Gedankensprünge!“ behauptete eine mir völlig unbekannte Stimme. Wie bitte? Hatte ich das gerade selbst mit verstelltem Tonfall gesagt? Oder sprach mein Rappel zu mir?
Ich schaute mich um und konnte zunächst Niemanden erkennen. Ein Rascheln im Gerümpel lenkte meinen Blick schließlich auf ein zugestaubtes Regal mit allerlei Sammelsurium. Ich blickte genauer hin und sah eine halbdurchsichtige Gestalt, gekleidet in einen vornehmen Anzug. Der kleine Mann saß amüsiert auf einem Brett und ließ die Beine baumeln.
„Na, da staunst Du, was? So etwas wie mich hast Du bestimmt noch nie gesehen. Ich bin Znirp, der Rückwärts-Prinz. Und kann, wenn ich will, jede Größe annehmen. Aber auch einen Rat und sogar stramme Haltung! Aber das sind für mich keine Annehmlichkeiten!“
Ja, mein Besucher hatte Recht. Ich war mehr als überrascht. Wäre ich noch ein Kind, dann würde ich bestimmt Bauklötzer staunen. Meine Gedanken stockten und bewegten sich nur stotternd vorwärts.
Bis der Fluß ganz zum Erliegen kam. Und auch das Bewegen und das Reden waren mir unmöglich. So sehr ich das auch versuchte. Nicht mal ein Krächzen wollte klappen. Was unter Umständen damit zu tun hatte, daß ich mich nun mal in einer Bodenkammer befand und nicht in einem Sprechzimmer.
Eine unerhörte Situation. Kaum vorstellbar. Denn aus unseren Alltäglichkeiten ist die Artikulation einfach nicht wegzudenken. Priester predigen, Naturforscher plappern wie ein Wasserfall, Schneider quatschen kariert oder dummes Zeug, Blumenverkäufer nehmen kein Blatt vor den Mund.
Geflügelzüchter schnattern wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, Fleischer sülzen, sprechen abgehackt oder frei von der Leber weg und Schriftsteller reden wie ein Buch, manche sogar ohne Punkt und Komma. Ich kam mir vor wie ein Ohrenarzt, der kein Gehör fand.
„Genug gegrübelt! Ich will Deine Denkpause nutzen, ein bißchen von mir zu erzählen. Und Dir sagen, daß Du Deine glücklich machende Sentenz, jenes flatternde, schwebende geflügelte Wort tatsächlich finden wirst. Hier oben. Als Boden-Satz! Ich weiß das, denn ich komme aus der sogenannten Zukunft.
Der man aber nicht, ebenso wie ihrer älteren Schwester, der Vergangenheit, die ungeteilte Aufmerksamkeit schenken sollte. Denn was wirklich zählt ist die Geistes-Gegenwart!“
Ein winziges transparentes Männchen, das vorgab, die kommenden Ereignisse zu kennen, konnte doch nicht Realität sein. Wurde ich allmählich verrückt? War ich nicht ganz richtig im Oberstübchen? Oder bedeutete dieser Raum mehr. War er der Boden der Wirklichkeit?
„Ihr Menschen seid wirklich famose Architekten. Es ist schon bewundernswert, wie Ihr es immer wieder schafft, Euch die Zeit zu verbauen! Die Fassade ist wichtiger als das Innenleben. Was für eine Maskerade. Aber das ist ein anderes Thema.“
Ich sah, wie er kurz das Haupt hängen ließ, als würde ihm die Decke auf den Kopf fallen, und er dadurch noch etwas kleiner wurde. Doch dann bäumte er sich auf und wuchs über sich selbst hinaus. Plötzlich war eine richtig stattliche Erscheinung, die mit mir auf Augenhöhe redete.
„Als Du vorhin beinahe den Halt verloren hast, kam unbeabsichtigt das magische Zeitwort über Deine Lippen. Und wirkte wie das Abwürgen des Motors für den Lauf der Dinge. Dadurch ist die Geschichte stehengeblieben. Und dieser urplözliche Stillstand bremste auch mich abrupt in meiner Bewegung. Ich habe jetzt noch Haltschmerzen. Beinahe wäre übrigens mein Bruder auch noch mitgekommen, aber glücklicherweise hat Prinz Ipien andere Grundsätze und Lebensregeln.“
So allmählich begriff ich das Unfaßbare. Zumindest kam es mir so vor. Für mich war offenbar das Nun zu einem tranigen Immer mutiert. Als hätte jemand mit der Stoppuhr die Zeit angehalten. War das dieser Znirp? Trotz seiner Transparenz blieb er mir reichlich undurchschaubar.
„Du mußt Dir das so vorstellen: Wir leben in Euren Zimmern, jedoch anderen Zeiträumen. Eben rückwärts. Dadurch könnt ihr uns nicht sehen. Vielleicht hört ihr mal ein Knacken, Knirschen oder knorriges Knuffeln. Aber bevor man uns entdecken kann, sind wir schon wieder weg. Einige Sekunden voran in Eurer Vergangenheit, die nun mal unsere Zukunft ist. Denn wir sind GeWESEN.“
Eines mußte ich meinem adligen Gesprächspartner lassen: Er gab mir zu denken! „Aber keine Angst: Zeit vergeht nicht, sie dauert und breitet sich aus. In alle Ritzen und Fugen von gestern, heute und morgen. Sie heilt niemals alle Wunden, man kann sie auch nicht absitzen, verlieren oder totschlagen. Sie ist weder absehbar noch hat sie einen Zahn. Darum ist es nie zu spät, sondern alles immer pünktlich.“
Ach, was hatte ich für viele Fragen an den Mann aus unserer Zukunft. Doch durch das Anhalten der Gegenwart gab es für mich nur ein langgedehntes Jetzt ohne weitere Entwicklung. Was mich doppelt sprachlos machte.
„Sicherlich fragst Du Dich, wieso ich überhaupt mit Dir sprechen kann. Obwohl die Zeit nicht voranschreitet. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Nun, ich rede in Temporanto, halte also mit Dir Rücksprache, und durch diese Änderung des Ablaufs kannst Du mich verstehen.“ Und dann stellte er sich wie ein Athlet mit Diskus hin und holte zum großen Wurf aus. „In Euren Zeitungen, die ich gelegentlich lesen kann, wird gerne behauptet, ihr säßet alle in einem Boot. Aber sowas dürft Ihr Euch nicht einreden lassen. Denn das Schiff hat doch gar keinen Kompaß. Und eine Industrie scheint bemerkenswerte Hochkonjunktur zu haben. Die Worthülsenproduktion. Großabnehmer sind Menschen in der Politik, in der Werbung und den Medien. Deren überall in der Öffentlichkeit geplappertes Nichts muß doch jeden einigermaßen aufgeweckten Zeitgenossen total müde machen, angesichts dieser gähnenden Leere.“
Ich kam mir nicht ganz unschuldig vor an den beschriebenen Umständen. Als Schriftsteller hatte man vielleicht keine Leiche im Keller. Aber ganz bestimmt in so manchem Manuskript einen toten Punkt. In dem Moment deutete mein Dachboden-Gast auf einen Karton und meinte, daß sich darin das gesuchte Weihnachtsmann-Kostüm befände. Dann macht er eine pfeilgeschwinde Bewegung mit den Fingern, fuchtelte herum, zeigte kurz ein Kartenspiel, wodurch erkennbar wurde, daß er alle Trümpfe in der Hand hatte und verschwand gestikulierend. Dieses Auflösen ging äußerst rapide vor sich. Sozusagen im Handumdrehen. Augenblicklich war mein Verharren vorbei. Diese abrupte Änderung krempelte die Situation um. Gerade so, als wäre sie hemdsärmelig. Und unsere Erde bloß eine Tür, denn ich hatte das Gefühl, die Wandlung hob die Welt aus den Angeln. Ich war irgendwie perplex, stand wie Pieksieben mit offenem Mund vor dem Regal, und mir blieb tatsächlich die Spucke weg. Aber das Schlimmste stand mir noch bevor. Denn als ich, immer noch verdutzt und sprachlos, endlich jenen Weihnachtsmannkostümkarton aus der festen Umklammerung der übrigen abgestellten Kästen und Gegenstände mit einem Ruck befreite, warf es mich Knall auf Fall um. Wie vom Donner gerührt kippte ich aus den Latschen und fiel aufs Kreuz. Dieser Sturz wirbelte viel Schmutz auf. So schnell konnte ich mich gar nicht aus dem Staube machen. Jene Bodenübung sorgte dafür, daß meine Bekleidung binnen weniger Sekunden gehörig zerschunden aussah. Verärgert über diese Ungeschicklichkeit schlich ich die Stufen von der Dachkammer abwärts, eingehüllt in den Dunst der Vergangenheit, der wie eine Last auf meinen Schultern lag. Schließlich stand ich wieder in mein Schreibzimmer, mit dem eingedellten Karton unter dem Arm, ein paar Schrammen an den Armen sowie eine reichlich ramponierte Robe am Körper und hatte das Gefühl, heruntergekommen zu sein.
Übrigens: Als ich nachher, wohlkostümiert und mit künstlichem Wattebart am Kinn, bei meinem Freund die Geschenke für seine Familie verteilte und so manches strenge Wort sprach, fürchtete ich mich ein bißchen vor mir selbst, denn ich glaubte in dem Moment wieder an den Weihnachtsmann ...
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Die ausgefallene Idee
Mit einem Lächeln aufzuwachen, war für ihn etwas ganz Besonderes. Ein sensationelles Ereignis. Derartige Vorkommnisse waren eigentlich äußerst selten. Darum wirkten sie geradezu umwerfend wie eine handgreifliche Begegnung mit einem Judo-Meister. Denn eigentlich war der gerade Erwachte ein Knurrhahn, ein durch und durch mürrischer Muffel.
Peter Miese lehnte es kategorisch ab, sich morgens durch ein Hilfsmittel aus dem Schlaf reißen zu lassen, sei es nun mittels eines Weckers oder durch eine Ehefrau. Ein akustisches Signal, davon war er zutiefst überzeugt, kann nicht die natürliche Unterbrechung einer Erholungsphase sein.
Man darf den Tag nicht einläuten. Diese Art des Muntermachens versetzt den Menschen wohl kaum in die Lage, eine zufriedenstellende Tagesgestaltung vorzunehmen. Vom Anbrüllen, Wachrütteln oder aus-dem-Schlaf-reißen durch organische Wecker ganz zu schweigen.
Ja, nun lag er da auf seinen drei Kopfkissen und unter zwei Daunendecken. Er versuchte sich zu erinnern, was denn eigentlich jenen kurzen Heuterkeits-Kitzel ausgelöst hatte. Was war es, was hatte ihn gerade beim Aufwachen zum Schmunzeln gebracht? Seine krampfhaften Überlegungen garnierte er mittels Brummeln unverständlicher Knurrlaute. Er sah eine Nebelwand, aus der lautes Fußstampfen und Hufgetrampel zu kommen schien. Und dann gelang ihm, den bereits verloren geglaubten Erinnerungsfaden wieder aufzunehmen.
Wie war das noch? Ja, richtig, im Traum war ihm ein Millionär begegnet, so ein unwahrscheinlich sympathischer von der wahrheitsliebenden Sorte. Der klemmte sich jeden Morgen, als wäre es eine gymnastische Übung, für wenige Minuten zwei größere Geldbündel unter die Achseln. Um später am Tage ohne zu lügen behaupten zu können, es sei für ihn selbstverständlich, sein Geld unter den Armen zu verteilen.
Erneut huschte ein leichtes Lächeln über seine Lippen. So euphorisch war Peter Miese doch sonst nicht. Es war wie ein ekstatischer Rausch.
Aber heute war ja auch ein ganz besonderer Tag. Ein Tag, der sein Leben verändern sollte. Jegliches Unerledigte galt es, gezielt beiseite zu schaffen. Er wollte die kommenden Stunden nutzen, all das, was im Raum stand, über den Haufen zu werfen.
Er hatte sein Vorgehen detailliert geplant. Nichts wollte, nichts durfte er dem Zufall überlassen. Selbst der klitzekleinste Fehler, ein leidiger Lapsus oder prekärer Patzer konnten das Unternehmen gefährden. Jegliche Gemütsregung war verboten. Auch und gerade so wenige Tage vor Weihnachten.
Es war jetzt genau neun Uhr morgens, es blieben noch elf Stunden. Mittlerweile saß er im Morgenmantel am Frühstückstisch, umgeben von unförmig-klobigen Gipsklumpen, die er zur Seite schieben mußte, um seine Kaffeetasse abstellen zu können. Der ehemalige Schlafanzugstoffmustergestalter war Frührentner. Seine Frau hatte ihn bereits vor Jahren verlassen, als sie in seinem Leben keinen Platz mehr hatte und sein Hobby immer mehr Raum beanspruchte. Während andere Menschen Briefmarken, Streichholzschachteln oder Autogramme zusammentrugen, sammelte er Eindrücke. Doch ging es ihm hierbei nicht um flüchtige Impressionen, sondern um alle Arten von Fährten, Tritten, Fußstapfen, die er bei seinen ausgedehnten Spaziergängen auf Feldern, in Wald und Flur vorfinden konnte. Von jeder machte er einen Gipsabguß, welchen er bürokratisch-genau beschriftete. Und diese bizarren Ausformungen seiner sonderbaren Leidenschaft stellte er in seiner Wohnung aus, was mittlerweile sämtliche Zimmer in Anspruch nahm. Wenn mal gelegentlich ein Besucher auf diese, in rauen Mengen vorhandenen Werke zu sprechen kam, entgegnete Peter Miese nur, er sei eben eine Spur anders.
Oh, wie doch die Zeit vergeht, wenn man mal ein bißchen in Erinnerungen schwelgt; für sein Vorhaben blieben ihm jetzt noch neun Stunden. Er ging seinen Plan noch einmal in Gedanken durch. Dann zog er sich an und machte einen Spaziergang, um noch ein allerletztes Mal ein paar Eindrücke zu sammeln. Ein bißchen Ablenkung würde ihm jetzt guttun.
Jene außerordentliche Idee, die heute Abend zur Ausführung kommen sollte, war ihm gekommen, als sich sein Schulfreund Richard Racker bei ihm gemeldet hatte. Jener brauchte für einen Auftritt einen Assistenten, der bei einer Zauber-Show in der Stadthalle als eingeweihter Publikumskandidat mitwirken sollte. Diesen Wunsch wollte Peter Miese zuerst nur widerwillig, erfüllen, aber, sobald sein Vorhaben feststand, war er mit großer Begeisterung dabei.
Schwer bepackt kam er von seinem Waldspaziergang zurück. Die achtzehn massigen Gipsabdrücke wuchtete er etwas verschwitzt in die Wohnung und schaute auf die Uhr. Noch vier Stunden. Da blieb keine Zeit mehr, ein vollständiges Mittagessen zu kochen. Einfach schnell eine Büchse Ravioli erhitzen. Und dann hieß es ja auch schon Abschied nehmen. Ach, wie gerne war er unter Seinesgleichen, jenen verdrießlich-verdrossenen Übellaunigen. Beispielsweise in seiner Stammkneipe „Groll“, die mit einem so überaus trefflichen Spruch warb: „Bei uns läuft jedem die Galle über, garantiert!“ Gelegentlich gaben dort auch „Die
zähneknischenden Zehn“ ein fuchsteufelswildes Konzert. Aber einmal, da fühlte sich Peter Miese auch dort reichlich fehl am Platze, nachdem er nämlich eine plakative Ankündigung für eine besondere Veranstaltung in den verkehrten Hals bekommen hatte. Statt grantig-gnatziger Griesgrame begegneten ihm gutgelaunte Glücksritter, als eine Abenteurer-Zeitschrift im Rahmen eines lokalen Wettbewerbs eine Miß Mutig suchte.
Während er beiläufig die weichen Nudeln kaute, verzehrte die hungrige Zeit die Minuten; es blieben noch gut zwei Stunden.
Damit bei der Veranstaltung alles Programmgemäß ablaufen konnte, mußte Peter Miese lediglich vier Punkte genauestens beachten. Das war ihm von Trick-Rick, wie sich Richard auf der Bühne nannte, wiederholt eingetrichtert worden. Erstens: rechtzeitig erscheinen. Zweitens: den Platz in der ersten Reihe einnehmen. Drittens: sich für das Mitwirken an einem bestimmten Programmpunkt melden. Und viertens: auffällige Kleidung tragen, damit ihn der kurzsichtige Rick von der Bühne aus auch zweifelsfrei erkennen konnte.
Was Peter Miese innerlich bereits vor Jahren vollzogen hatte, sollte an diesem Abend schlußendlich in die Tat umgesetzt werden. Er war bereit für den großen Schritt. In der Wohnungstür stehend, blickte er noch einmal kurz zurück, bevor er energisch und entschieden den Zugang für immer verschloß. In einer knappen Stunde war es soweit.
Mit großem Trommelwirbel betrat der Magier das Podium. Tauben, Tücher, Teppiche ließ der transpirierende Turbanträger erscheinen, schweben und wieder verschwinden. Kröten quakten das Unkenlied und Springfrösche stellten Hops-Rekorde auf. Indem der Zauberer zeigte, was er konnte, machte er vor allen Dingen deutlich, was er nicht konnte. Aber das tat der Stimmung im Saal keinen Abbruch. Schließlich war der Trick-Rick ja ein Kind dieser Stadt.
Das Publikum bedachte die Aufführung mir viel Applaus. Unaufhaltsam strebte die Schau nun ihrem Höhepunkt zu. Und zu diesem gehörte zweifellos Peter Miese.
Dann war es soweit. Eine glitzernde Kabine wurde auf die Bühne gerollt. Der Kasten war vielleicht zweieinhalb Meter hoch und einen Meter breit. Mit seinem Erscheinen erging die Frage an das Publikum, ob sich denn jemand für ein kleines Experiment zur Verfügung stellen würde. Während es in den hinteren Reihen nur ein paar zaghafte Meldungen gab, machte sich Peter Miese lautstark bemerkbar und wurde unter tosendem Beifall schließlich auf die Bühne gebeten.
Jetzt konnte es losgehen, das war seine Stunde Null.
Nach einer Begrüßung und ein paar belanglosen Bemerkungen bugsierte ihn Rick in die magische Kabine. Er nannte sie Bye-Bye-Box. Der Name war Programm.
Um die technischen Details vor neugierigen Zuschauern zu verbergen, waren die Innenwände dieser eigenartigen Sperrholzkonstruktion mit einer Tapete verkleidet worden, die so wirre Muster aufwies, daß man schon nach wenigen Augenblicken zu schielen begann. Doch bevor sich eine dauerhafte Sehstörung einstellen konnte, wurde der Verschlag geschlossen und der Kandidat befand sich in absoluter Finsternis. Er trat mit seinem Fuß einige Male auf den Boden und, tatsächlich, er tappte im Dunkeln. Irgendwie fand er den Mechanismus nicht auf Anhieb, den er jetzt eigentlich betätigen sollte. Nur sehr dumpf waren noch die Worte von Trick-Rick zu vernehmen. Sie wirkten in diesem besonderen Moment so tonlos unartikuliert, als hätte er einen seiner Frösche im Hals.
Erneut tappte er und spürte endlich den erwarteten Hebel unter der Schuhsohle. In dem Moment verlor Peter Miese den Boden unter den Füßen. Ein Klappmechanismus sorgte für eine Ortsveränderung. Überraschend glatt glitt er sanft und geräuschlos in einen gepolsterten, halbdunklen Raum unter der Bühne. Dort angekommen, so war ihm gesagt worden, sollte er sich nach rechts drehen und schnurstracks die Plattform eines Aufzuges betreten, um dann, im dramaturgisch passenden Moment, wieder eine Etage höher, zur Verwunderung der Anwesenden, auf der Bühne zu erscheinen.
Doch genau das tat der Mann aus der Kiste nicht. Er wendete sich nach links, durchschritt eine schmale Tür und gelangte über einen niedrigen Flur zu einer Treppe, die direkt zum Seitenausgang führte. Auf diese Art und Weise konnte er unbemerkt die Stadthalle verlassen.
Was wohl Richard gleich machen wird, wenn sein Mann aus dem Publikum nicht erscheint? Ob er mit dem Zauberstab herumfuchtelt? In der Hoffnung, doch noch etwas retten zu können, sei es noch so aus der Luft gegriffen? Oder magische Formeln beschwörend intoniert? Und dabei laute Fußtritten auf die Bühnebretter stampft, um eine Etage tiefer auf sein Dilemma aufmerksam zu machen? So oder so war das eine reichlich groteske Situation. Und für die Anwesenden ein ganz besonderes Spektakel.
Erneut mußte Peter Miese grinsen. Das war immerhin das zweite Mal am heutigen Tage. Na, wenn das man nicht zur Marotte wird!
Vor seinem geistigen Auge erschienen bereits die Boulevardzeitungen mit ihren marktschreierischen Schlagzeilen: „Trick-Rick in Hektik: Publikumskandidat verschwindet spurlos!“ beziehungsweise: „Panik nach Fehler in Mechanik: Zuschauer reagieren entsetzt“ oder in Kurzform: „Hokuspokus futschikato!“
Der Verlorene hatte keine Zeit zu verlieren. Nicht die Gedanken an das Morgen verschwenden, das wird schnell genug zum Heute. Nun aber fix zum Bahnhof und aus dem Schließfach den Koffer geholt. Zum Zuge kommen, das richtige Gleis finden und das Weitre suchen. Um heimlich, still und leise an das Ziel seiner Wünsche zu gelangen. So abseits und abgelegen, daß ihn kein Fernglas dieser Welt jemals entdecken kann. Schon gar nicht seine Verwandtschaft.
Mit dieser Aktion war er zum Chirurgen in eigener Sache geworden und hatte sich irgendwie selbst wegoperiert. Ab sofort war er für seine Familie lediglich ein entfernter Verwandter. Und das hatte gerade für den Dezembermonat ganz praktische Konsequenzen: Kein Weihnachtswahn, keine Kalorienkapriolen, kein Geschenkegeplänkel. Und vor allen Dingen: Keine Trivialitäten unterm Tannenbaum.
Bei diesem Gedanken wurde ihm schwummerig. Er fühlte seine Beine versagen als hätte er Gummiknie. War sein Weg womöglich der falsche Pfad, die verkehrte Gasse oder gar die Verliererstraße?
Als wäre das die in Frage kommende Antwort, erschienen ihm urplötzlich, wie aus einem Nebel, seine gesammelten Gipsabdrücke. Füße, Tatzen, Pfoten, Hufe, Klauen, Pranken. Als wären sie auf einer wilden Flucht, trampelten sie, wie bei einer Stampede, alles nieder. Sie rasten auf ihn zu.
Kurz vor ihm sprangen sie schließlich hoch und hagelten hinter ihm prasselnd hernieder. Was nicht ohne leichte Berührungen vonstatten ging. Zum ersten Mal konnte er seine Spuren spüren. Er verlor kurz das Bewußtsein und sank zu Boden. Aber als er wieder zu sich kam, hatte er merklich gute Laune. Was vielleicht daran lag, daß diese Gipsgranaten aus heiterem Himmel kamen.
Mit einem Lächeln aufzuwachen, war für ihn etwas ganz Besonderes. Ein sensationelles Ereignis. Derartige Vorkommnisse waren eigentlich äußerst selten. Darum wirkten sie geradezu umwerfend wie eine handgreifliche Begegnung mit einem Judo-Meister. Denn eigentlich war der gerade Erwachte ein Knurrhahn, ein durch und durch mürrischer Muffel.
Kiel, 25.12.2015 diesen Eintrag kommentieren
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Ein Europa freier Wörter
Weit hinten, hinter den Wortbergen, fern der Länder Vokalien und Konsonantien leben die Blindtexte. Abgeschieden wohnen Sie in Buchstabhausen an der Küste des Semantik, eines großen Sprachozeans. Ein kleines Bächlein namens Duden fließt durch ihren Ort und versorgt sie mit den nötigen Regelialien. Es ist ein paradiesmatisches Land, in dem einem gebratene Satzteile in den Mund fliegen. Nicht einmal von der allmächtigen Interpunktion werden die Blindtexte beherrscht - ein geradezu unorthographisches Leben. Eines Tages aber beschloß eine kleine Zeile Blindtext, ihr Name war Lorem Ipsum, hinaus zu gehen in die weite Grammatik. Der große Oxmox riet ihr davon ab, da es dort wimmele von bösen Kommata, wilden Fragezeichen und hinterhältigen Semikoli, doch das Blindtextchen ließ sich nicht beirren. Es packte seine sieben Versalien, schob sich sein Initial in den Gürtel und machte sich auf den Weg. Als es die ersten Hügel des Kursivgebirges erklommen hatte, warf es einen letzten Blick zurück auf die Skyline seiner Heimatstadt Buchstabhausen, die Headline von Alphabetdorf und die Subline seiner eigenen Straße, der Zeilengasse. Wehmütig lief ihm eine rethorische Frage über die Wange, dann setzte es seinen Weg fort. Unterwegs traf es eine Copy. Die Copy warnte das Blindtextchen, da, wo sie herkäme wäre sie zigmal umgeschrieben worden und alles, was von ihrem Ursprung noch übrig wäre, sei das Wort "und" und das Blindtextchen solle umkehren und wieder in sein eigenes, sicheres Land zurückkehren. Doch alles Gutzureden konnte es nicht überzeugen und so dauerte es nicht lange, bis ihm ein paar heimtückische Werbetexter auflauerten, es mit Longe und Parole betrunken machten und es dann in ihre Agentur schleppten, wo sie es für ihre Projekte wieder und wieder mißbrauchten. Und wenn es nicht umgeschrieben wurde, dann benutzen Sie es immernoch.
Kiel, 13.10.2013 diesen Eintrag kommentieren
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